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Fotokritik

Timm Starl
Ansichten vom Krieg

Anton Holzer (Hrsg.)
Die letzten Tage der Menschheit
Der Erste Weltkrieg in Bildern
Mit Texten von Karl Kraus
Darmstadt: Primus, 2013
29,6 x 22,3 cm, 142 (+1) S., 104 Abb. in Farbe
€ 29,90

„Schwerlich dürfte sich jemand herausnehmen wollen, eine Einführung in die ‚Letzten Tage‘ [d.i. „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus] zu geben. Sie wäre so anmaßend wie überflüssig.“ Anlässlich des Erscheinens der Briefe an Sidonie Nádhernývon Borutin warnte Elias Canetti 1974 in einem Vortrag vor einem solchen Unterfangen. In der Korrespondenz von Karl Kraus entdeckte er, dass die sich wandelnden Beziehungen zur Gräfin mit ein Grund waren, weshalb der Schriftsteller von Ende 1914 bis zum Sommer 1915 sich nicht zum Krieg geäußert und erst danach mit der Niederschrift der „Letzten Tage der Menschheit“ begonnen hatte.
            Eine Einführung gibt Anton Holzer nicht und zum Schweigen von Kraus hat er eine andere Erklärung: „Der Wahnsinn des Krieges und die pathetischen Rechtfertigungen der Gewalt verschlugen ihm die Sprache“ (8). Holzer ist aber – könnte man sagen – auf eine ganz andere Art „anmaßend“, denn er verwendet das Antikriegsdrama als Steinbruch, um seine Geschichte des Ersten Weltkrieges auf zweifache Weise zu illustrieren: mit Textpassagen aus dem Stück und darüber hinaus mit vorwiegend fotografischen Bildern zum Ersten Weltkrieg, die ihm zu diesem Ereignis in den letzten Jahren seiner Forschungs- und Publikationstätigkeit begegnet sind. Beides verknüpft er – wie im Vorwort bemerkt – „auf neuartige, faszinierende Weise“ zu einem „Geschichtsbuch“, zu einer „dokumentarische[n] Chronik des Krieges“. (7) Die gewählte Methode und deren Ausführung als „faszinierend“ zu bezeichnen, deutet auf einen nicht gerade bescheidenen Anspruch.
            Hingewiesen wird an derselben Stelle, Karl Kraus habe als ständiger Zeitungsleser „die gängigen Bilder des Ersten Weltkrieges“ gekannt und sie „während des Schreibens täglich vor Augen gehabt“. Er selbst hatte allerdings seinem Text nur ganz wenige Abbildungen beigegeben – dass es sich um lediglich sechs Fotografien und ein Faksimile in der ersten Veröffentlichung von 1919 handelt, wird von Holzer verschwiegen –, so dass die vorliegende Veröffentlichung erst anschaulich mache, welche Bilder damals vorgelegen hätten. Tatsächlich bezieht sich Kraus das eine und andere Mal auf Bildveröffentlichungen in der Presse, nennt jedoch in keinem Fall die konkrete Quelle. Der österreichische Literaturwissenschaftler Sigurd Paul Scheichl und der amerikanische Germanist Leo A. Lensing haben 1978 und 1988 bereits entsprechende Recherchen angestellt und für mehrere Passagen in den „Letzten Tagen der Menschheit“ die jeweiligen Abbildungen eruieren können.
            Auch Holzer hat einige wenige Fälle im Text von Kraus aufgetan und die entsprechenden Bilder in der Presse geortet (14 bis 17) – auch wenn es sich um solche handelt, die zumeist vor und nach dem Krieg veröffentlicht worden sind. In überwiegendem Maß konnte jedoch nicht ermittelt werden, auf welche Ansichten sich Kraus gestützt hat. Also hat Holzer Bilder gesucht, die das Geschriebene illustrieren, wobei es sich nicht immer um damals veröffentlichtes Material handelt: Etwa ein Drittel Abbildungen erfolgte nach Vorlagen aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, das über den Nachlass von über 30.000 Negativen und Abzügen des Kriegspressequartiers verfügt, von denen aber nicht durchwegs bekannt ist, ob und wo sie publiziert worden sind.

 

nn Anton Holzer: „Getöteter italienischer Soldat
mit schweren Brandverletzungen im Gesicht.
Die Beschriftung des Gasmaskenbehälters lautet:
‘Wer die Maske abnimmt, stirbt‘.“
(Abb. und Bildunterschrift, S. 51)
Karl Kraus: „Der deutsche Generalstabsoffizier: – Ach laßt mich man bloß mit euerm Gas zufrieden! Unser Gelbkreuz, unser Grünkreuz, unser Blaukreuz – wenn wir in Frankreich Bunte Woche hatten!
Der diensthabende Generalstabsoffizier: Bitte wir haben bei Tolmein a ganz a scheene Wirkung erzielt. Die sind nur so umgfalln, bitte –“
(Die letzten Tage der Menschheit, V. Akt, 55. Szene, hier S. 50)
Anton Holzer: „Der Einsatz von Giftgas beginnt Ende April 1915 an der Westfront und im Sommer 1917 an der Isonzofront. Zehntausende von Soldaten sterben an den Folgen des Gases. Granaten und Minen, die als ‘Blaukreuze‘ gekennzeichnet sind, führen zu Niesen, Husten und Erbrechen. Die mit Senfgas gefüllten ‘Gelbkreuze‘ greifen die Haut an. Die ‘Grünkreuze‘ sind mit Phosgengasen gefüllt und wirken tödlich.“ (Kommentar, S. 50)

 

           Seine Vorstellungen vom Ersten Weltkrieg entwickelt Anton Holzer mithilfe und entlang von eigenen Texten und Analysen, Zitaten aus den „Letzen Tagen der Menschheit“ von Karl Kraus und vorwiegend österreichischem Bildmaterial, das während des Krieges entstanden ist. Der einführende Essay widmet sich der Frage nach „Karl Kraus und der Erste Weltkrieg“. Weitere Betrachtungen des Autors sind über die Publikation verteilt und behandeln Themen die „Inszenierte Kriegsbegeisterung“, „Schlachtbilder“, die Darstellung von „Feldherren und einfache[n] Soldaten“ in der Bildpublizistik, die propagandistischen Aktivitäten des Kriegspressequartiers, „Kriegsgefangene, Trophäen und Raubzüge“, „Der Krieg im Hinterland“, der Schlachtfeldtourismus als „Nachhall des Krieges“.
           Daran jeweils anhängend sind Szenen aus dem Drama von Kraus zitiert und diese wiederum mit Bildern illustriert. Für die Ausführungen zeichnen also mehrere Urheber beziehungsweise wurde aus diversen Quellen geschöpft: Die Texte stammen von Anton Holzer, Karl Kraus und aus den Redaktionen der zeitgenössischen Presse; die Bilder sind österreichischen oder deutschen Zeitschriften und Büchern von 1908 bis 1927, zum geringen Teil den beiden Ausgaben der Letzten Tage der Menschheit von 1919 und 1922 entnommen oder kommen aus öffentlichen Archiven in Wien und Prag sowie der privaten Sammlung Holzers. Der Krieg wird also – könnte man sagen ­– von allen Seiten beleuchtet.
           Die Bildunterschriften wurden entweder aus der zeitgenössischen Presse übernommen oder von Holzer formuliert. Während jedoch die Herkunft der Zitate durchwegs nachgewiesen wird, werden die Urheber der Fotografien nicht genannt. Lediglich wenn eine komplette Seite aus einer Zeitung oder Zeitschrift reproduziert wird, erschließt sich in der Wiedergabe der Name des Fotografen oder der Agentur. Dies ist allerdings nur bei vier Abbildungen der Fall. Insofern verfährt Holzer – für einen Fotohistoriker eigentlich seltsam – wie manche Zeithistoriker, die oft lediglich das Archiv, aus dem die Vorlage stammt, nicht aber die Bildautoren nennen.
           Die Illustration erfolgte nach der Maßgabe, die literarischen Bilder um fotografische oder grafische zu ergänzen. Je näher allerdings eine Fotografie inhaltlich der entsprechenden Textstelle kommt, desto weniger ist der Leser und Betrachter imstande, mehr als ein Bild zu sehen: Das Sprachbild wird von der Fotografie verdrängt. Man sollte also jeweils eine zweifache Lektüre vornehmen: einmal die Abbildungen nach dem Lesen des Textes betrachten, das andere Mal in umgekehrter Reihenfolge. Auf diese Weise geht man den Weg von Holzer, der bildliche Darstellungen zu vorhandenen oder eigenen Texten gesucht hat. Oder man verfolgt den Arbeitsprozess von Karl Kraus, der sich von Bildern hat inspirieren lassen.
           Trotz aller Einschränkungen: Entstanden ist ein so vielfältiges wie vielstimmiges Bild des Ersten Weltkrieges, der aus mehreren Perspektiven betrachtet wird: historisch, analytisch, kulturkritisch, publizistisch, satirisch. Anton Holzer erweist sich als begabter Dramaturg, der aus einem berühmten Theaterstück und vielen zeitgenössischen Quellen eine neue Geschichte des Ersten Weltkrieges entworfen hat. Wer sich angesichts der vermutlich zahlreichen Publikationen, die zum hundertjährigen Jubiläum des Kriegsbeginns im kommenden Jahr erschienen sind und noch erscheinen werden, sollte nicht zuletzt zu Holzers Letzten Tage der Menschheit greifen.

Erwähnte Literatur
Elias Canetti, „Der Neue Karl Kraus. Vortrag, gehalten in der Berliner Akademie der Künste am 10. Nov. 1974“, in: Neue Rundschau, 86. Jg., 1975, Nr. 1, S. 1-21
Karl Kraus, Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. 1913 – 1936, Bd. 1, München [Kösel-Verlag, 1974]: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1977 (dtv-bibliothek 6072)
Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten. Mit Vorspiel und Dialog, Wien: Die Fackel, 1919, Reprint: Frankfurt am Main: Zweitausendeins, o.J. [1981]
Leo A. Lensing, „Quellenstudien zur Bilderwelt der ‘Letzten Tage der Menschheit‘“, in: Kraus-Hefte, Heft 48, Okt. 1988, München: edition text + kritik, S. 4-14
[Auswahl Sigurd Paul Scheichl] „Artikel aus der ‘Neuen Freien Presse“, in: Kraus-Hefte, Heft 6/7, April 1978, München: edition text + kritik, S. 2-23

November 2013

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© Timm Starl 2013

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