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Fotokritik

Timm Starl
Vom Vergessen in der Fotohistoriografie

Anton Holzer
Fotografie in Österreich
Geschichte, Entwicklungen, Protagonisten. 1890 bis 1955
Wien: Metroverlag, 2013
24,5 x 16,6 cm, 254, 1 Bl., S., 142 SW-Abb.
Gebunden, Schutzumschlag
€ 25,-

Anton Holzer agiert mit Vorliebe als Anwalt der in Österreich wirkenden und „zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Fotografen und Fotografinnen“, wie der Verlag zu dem vor kurzem erschienenen Band bemerkt. Im Juli 2013 entdeckte er mit Edith Suschitzky beziehungsweise Edith Tudor-Hart „[e]ine vergesse Fotografin“. 2012 war es „[d]ie vergessene Avantgarde“ der Jahre um 1930, an die es zu erinnern galt. Im August 2013 stellte der in Wien lebende Südtiroler Fotohistoriker eine illustrierte Zeitschrift als „ein vergessenes Forum österreichischer Reportagefotografie“ vor. Und als das vorliegende Buch am 15. Oktober 2013 im Wien Museum der Presse präsentiert wurde, sprach der Autor von der „da und dort“ zu leistenden „Grabungsarbeit“, damit einige „vergessene Figuren“ der nationalen Fotografiegeschichte aufgespürt und ins rechte Licht gesetzt werden konnten.
             Aber auch die internationale Fotohistoriografie entspricht nicht den Ansprüchen Holzers, und im April 2011 heißt es zu der von Michel Frizot 1994 herausgegebenen Anthologie Nouvelle Histoire de la Photographie: „‘Vergessen‘ wurden nicht nur wichtige Entwicklungen der ost- und südosteuropäischen Fotografie der Zwischenkriegszeit, sondern auch der Zeit nach 1945 [...]“. Denn, wird gefragt, „[w]as wissen wir heute beispielsweise von der albanischen Fotografenfamilie Marubi, die seit Mitte der 1850er Jahre im albanischen Shkodra drei Generationen lang ein gutgehendes Atelier betrieb [...]?“ Allerdings ist der Mangel inzwischen behoben, zumal im selben Jahr Holzer einen Text zur „Fotografenfamilie Marubi“ veröffentlichte. Es blieb die einzige Recherche dieserart, denn meines Wissens hat er seither keinen anderen Fotografen aus diesen Regionen der europäischen Fotografiegeschichte hinzugefügt.
            Allerdings ist nicht immer etwas oder jemand vergessen worden. Die 1973 verstorbene Edith Tudor-Hart wurde beispielsweise nicht nur 2002 in dem von Wieland Schmied herausgegebenen Band 6 der Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, [...] 20. Jahrhundert, sondern auch im Prestel-Lexikon der Fotografen berücksichtigt. Überdies ist bereits 1986 im Berliner Verlag Dirk Nishen eine Monografie erschienen, die mit 117 Abbildungen mehr vom Werk der Fotografin zeigt als das vom Wien Museum 2013 herausgegebene Buch zur Ausstellung.
            Auch wurde die fotografische „Avantgarde“ in Österreich der ausgehenden 1920er und 1930er Jahre keinesfalls übergangen, sondern im internationalen Kontext gesehen, in dem sie bis auf ganz wenige Protagonisten keinerlei Bedeutung gespielt hat. In der wichtigen Ausstellung „Film und Foto“ von 1929 ist streng genommen nur ein einziger Österreicher berücksichtigt, nämlich Herbert Bayer, der ab 1921 in Deutschland gelebt und gewirkt hat. Man mag noch den Tschechen Willy Riethof dazuzählen, der mehrere Jahre in Wien und Berlin tätig gewesen ist. Geringe Beachtung fanden die meisten Fotografinnen und Fotografen, die sich einige Jahre dem Neuen Sehen verschrieben hatten, vornehmlich deshalb, weil sie wenig innovative Leistungen hervorgebracht hatten.
            Bei all den Unterlassungen, die Anton Holzer der fotohistorischen Zunft im In- und Ausland vorwirft, liegt die Frage nahe, wie begründet die Vorhaltungen sind. Zumal er seine Artikel zur Vergesslichkeit immer kurz vor Erscheinen einer eigenen Publikation platziert und direkt oder indirekt darauf hingewiesen har, dass dem jeweiligen Manko nun Abhilfe geschaffen wird. Sicherlich hat er da und dort recht, allerdings nicht in dem Ausmaß, wie die plakativen Formulierungen vermuten lassen. Und seine Notengebung provoziert nachgerade eine Suche nach jenen historischen Gegebenheiten und fotografierenden Zeitgenossen, die er selbst übersehen hat – oder auch nicht nennen wollte. Und inwieweit die von Holzer angeführten Fakten und Personen für die Fotografiegeschichte jeweils von Bedeutung sind.
            Damit soll bei der hier zur Debatte stehenden Publikation begonnen und nachvollzogen werden, was die „Grabungsarbeit“ denn zutage gefördert hat. Von den 323 Namen, die in den „Biografischen Notizen“ zu „Fotografinnen und Fotografen von 1890 bis 1955“ im Anhang genannt werden, sind lediglich 31 nicht in der „FotoBibl. Biobibliografie zur Fotografie in Österreich“, die als Datenbank der Albertina im Netz der Albertina frei zugänglich ist, verzeichnet. Enthalten sind unter den 31 Personen fünf Ungarn und ein Rumäne, die im Ersten Weltkrieg für das k.u.k. Kriegspressequartier tätig waren. Die übrigen haben zu gleichen Teilen als Amateure oder für die Presse gearbeitet. Dazu kommt mit Bil Spira ein in Wien geborener Redakteur, der für die Fotografien in einer Zeitschrift zuständig war, aber selbst nicht fotografiert hat (219). Abgesehen von Hans Misar, der als „Verlagsunternehmer, Journalist und Fotograf“ (211) wichtige Positionen in den Jahren ab 1938 besetzt hat, wurden von den meisten keine wesentlichen Beiträge zur fotografischen Bildgeschichte in Österreich beigesteuert. Manche finden sich bei Holzer auch lediglich als Namen in einer der zahlreichen Auflistungen und mit spärlichen Lebensdaten berücksichtigt – etwa Friedrich Bittner, von dem im Text (51) wie in der biografischen Notiz (197) nicht mehr verraten wird, als dass er im Ersten Weltkrieg für das Kriegspressequartier zum Einsatz gekommen ist.
            Die Vorliebe Holzers für Pressefotografie ist verständlich, nachdem er von Mai 2008 bis Juni 2012 an einem Forschungsprojekt „Österreichische Pressefotografie 1890–1938“ gearbeitet hat. Bereits in seinem Beitrag in The History of European Photography 1900–1938 hat er die Fotografie jener Jahre in Österreich zur Hälfte mit Wiedergaben aus Zeitungen und Zeitschriften illustriert. Auch das überproportionale Registrieren von Mitgliedern des Kriegspressequartiers ist auf ein früheres Forschungsprojekt zurückzuführen, aus dem mehrere Bücher Holzers zum Ersten Weltkrieg hervorgegangen sind. Doch das Fotoschaffen eines Landes oder einer Region ist nicht allein mit den in der Presse und in Büchern publizierten Fotografien darzustellen, zumal einige Bereiche – wie die wissenschaftlichen Hervorbringungen – von Holzer ausgeklammert werden. Zudem gehören zur öffentlichen Bildwelt auch Plakate und illustrierte Postkarten und nicht zuletzt jene Personen, die in Vorträgen mit fotografischem Material arbeiten – wie etwa Othmar Helwich, der für keinen Eintrag würdig befunden wurde, aber in den 1930er Jahren mit seinem Auftreten in der Wiener Urania – und darüber hinaus mit zahlreichen Buchveröffentlichungen – weitaus mehr Fotos publik gemacht hat als mancher Amateur, den Holzer entdeckt hat.
            Nicht zuletzt lässt sich der Komplex der Pressefotografie nicht auf die veröffentlichten Bilder reduzieren. Denn aus dem Fundus an Aufnahmen, die die Fotografen und Fotografinnen liefern, wählen die Redakteure nach Gutdünken aus und versehen die Bilder mit meist anderen Legenden. Schließlich werden die Fotografien von den Layoutern oftmals beschnitten, fallweise auch Partien im Bild hervorgehoben oder Töne abgeschwächt. Gleiches gilt für Bücher, bei deren Produktion Herausgeber und Textautoren ihre Vorstellungen einbringen. Es zählt also nicht unbedingt und niemals allein, worauf die Bildautoren abgehoben haben, sondern welche Bilder in welcher Aufmachung und mit welchen Unterschriften nach Ansicht der Verantwortlichen in den Verlagen präsentiert werden sollen. Dazu kommt, dass durch die Rasterung die eine oder andere Einzelheit verloren geht oder zumindest undeutlich wiedergegeben wird.
            Doch Anton Holzer bedient sich nahezu ausschließlich aus Druckerzeugnissen, denn nur gut zehn Vorlagen wurden aus Bildsammlungen genommen. Rund drei Viertel der Reproduktionen stammen aus den Jahren, in denen sie in Zeitschriften erschienen sind, der Rest kommt überwiegend aus Büchern, die in den letzten rund 30 Jahren aufgelegt worden sind. Damit erklärt sich auch die vielfach miserable Qualität der Illustrationen in dem Band, die vor allem dann recht flau ausgefallen sind, wenn grob gerasterte Exemplare zur Verfügung gestanden sind. Dazu kommt, dass die aus Anthologien stammenden Bilder bereits die Handschrift von deren Herausgebern und den Autoren tragen, gleichermaßen was die Auswahl wie die Bearbeitung der seinerzeitigen Vorlagen betrifft.
            Wenn nun Holzer für die „Fotografie in Österreich“ die gedruckten und veröffentlichten Aufnahmen für maßgebend hält, bleibt erst recht unerklärlich, weshalb auf manche Themen und Motive vollkommen verzichtet worden ist. Die wissenschaftliche Fotografie, die ja nicht nur in Fachpublikationen Eingang gefunden hat – man denke an die astronomischen Aufnahmen von Karl Kostersitz um 1900 oder an die fotografischen Dokumentationen der 1930er Jahre zu den archäologischen Funden in Hallstatt von Friedrich Morton –, ist, wie schon erwähnt, gar nicht präsent. Selbst die geologischen Erkundungen und die Erschließungen von alpinen Regionen, die umfangreichen fotografischen Niederschlag in den Zeitschriften des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins und anderer Vereine gefunden haben, zählt Holzer nicht zu den beachtenswerten Beiträgen zum nationalen Fotoschaffen.
            Es ließen sich noch unschwer weitere Bereiche anführen. Aber besonders das Fehlen des landschaftlichen Bildmaterials für das Ende des 19. und die beginnenden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verwundert doch einigermaßen. Denn um 1900 flohen verstärkt Zeitgenossen – zumindest jene, die es sich leisten konnten – aus der Hektik und dem Lärm der Städte und suchten Erholung in der Sommerfrische und während des Urlaubs, bei Ausflugsfahrten und auf Wanderungen. Die Eisenbahngesellschaften boten illustrierte Führer an, die Auskunft zu den Orten an den Bahnstrecken gaben, die Periodika und Broschüren der Freizeitvereine nannten die moderaten und die anspruchsvollen Routen. Diese Publikationen lieferten mit ihren Ansichten von Dörfern und deren Umgebung, Gebirgszügen, Seeufern und Flussläufen gewissermaßen die Gegenbilder zu den Erfahrungen des Alltags, der vom zunehmenden Tempo in den Städten und von der Enge vieler Wohnungen geprägt war.
            In den illustrierten Postkarten tauchte die gleiche Bildwelt auf und fiel gegenüber den monochromen Wiedergaben in den Publikationen manchmal noch bunter aus, so es sich um Farbdrucke nach kolorierten Vorlagen handelte. Die Ansichtskarten wurden an den Urlaubsorten erworben, konnten an die Daheimgebliebenen verschickt oder zur Erinnerung mit nach Hause genommen werden. Dass das reichhaltige Spektrum dieses Mediums, das überdies zu neuen Kommunikationsformen führte, in den Ausführungen nicht angesprochen wird und auch keine einzige Wiedergabe enthalten ist, verwundert umso mehr, als Holzer das Aufkommen der Massenmedien zu den wesentlichen Gründen zählt, weshalb seine Betrachtungen in den 1890er Jahren beginnen und Mitte der 1950er Jahren enden, in denen unter anderem wegen des Fernsehens „das Modell der veröffentlichten Fotografie in eine Krise“ geriet (7). Es steht wohl außer Zweifel, dass die Postkarte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert ihre frühe Blütezeit erlebte und massenweise Verbreitung fand.
            Holzer betont eingangs und mehrfach, „Fotografiegeschichte“ sei „Gesellschafts- und Kulturgeschichte“ (7), und er habe sich vorgenommen, „Kontexte aufzuzeigen und die Fotografie und ihre Geschichte in einen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang zu stellen.“ Das ist eine außerordentlich löbliche Absicht, und es unterscheidet diesen Band angenehm von den allermeisten fotohistorischen Überblicksdarstellungen, die primär medien- oder kunstgeschichtlich ausgerichtet sind. So werden die meisten Abschnitte mit einem Rekurs auf die Situation der entsprechenden Jahre begonnen. Beispielsweise erfährt man ausführlich im Zusammenhang mit der Fotografie während des Ersten Weltkriegs über die „Rolle des Kriegspressequartiers“ (49 bis 54), das als propagandistischer Arm der militärischen Führung agierte. Doch daneben machten sich auch die knipsenden Soldaten ein Bild vom Krieg, doch deren Produkte fanden nur selten den Weg an die Öffentlichkeit und also auch nicht in den Gesichtskreis von Anton Holzer, der sie in den anderen Kapiteln gleichfalls unterschlägt.
            Nicht bei jedem Thema erfahren die sozialen Gegebenheiten genügend Aufmerksamkeit. Im Kapitel „Selbstbewusste Frauen. Fotografinnen in der Zwischenkriegszeit“ wird kein Wort über die veränderte Arbeitssituation der Frauen nach dem Ersten Weltkrieg verloren, über ihre verstärkte Präsenz als Sekretärinnen und Stenotypistinnen in den Büroetagen, über die veränderten Bedürfnisse der arbeitenden weiblichen Bevölkerung, über ein neues Körperverständnis, das in der Freikörperkulturbewegung, dem Ausdruckstanz und in den Varietés mit den Auftritten der Tiller-Girls und anderer Tanzgruppen seinen Ausdruck fand. Sondern der Leser wird bloß über die berufliche Situation von Fotografinnen, über neue Inszenierungsformen in den Studios und ihre Arbeit für die Presse informiert. Davon abgesehen vermisst man an dieser Stelle ein weiteres Mal Postkarten mit den Porträts und Rollenbildnissen der Bühnen- und Filmstars mit ihren Millionenauflagen. Sie haben das Bild der „neuen Frau“ nicht weniger geformt als die Illustrationen in den Magazinen, die im Übrigen nicht selten dieselben Aufnahmen brachten.
            Insgesamt sind die Abhängigkeiten zwischen Lebenswelt und Bildwelt und deren wechselseitige Einflüsse allzu mechanistisch aufgefasst. So wird die „Heimatfotografie der 1930er-Jahre“ ausschließlich auf die politische Situation nach Ausschaltung der Opposition 1934 durch „das autoritär regierende christlichsoziale Regime“ (135) und dessen „Abgrenzung nach links“ (136) zurückgeführt. Doch werden die Wurzeln in der antimodernistischen und nationalistischen Heimatschutzbewegung am Beginn des Jahrhunderts ebenso ignoriert wie die Ausrichtung der Amateurfotografenvereine, die bereits in den 1920er Jahren bei der Wahl der Motive die heimatliche Idylle und die Hervorbringung malerischer Stimmungen propagiert haben. Unbeachtet bleibt auch, dass das Thema Heimat in den benachbarten Ländern wie Ungarn und der Tschechoslowakei, in Deutschland, aber auch in der Schweiz gleichfalls breite Anwendung fand, obwohl dort vielfach ganz andere politische Verhältnisse herrschten.
            Insgesamt dominieren in den Ausführungen eher holzschnittartige Gegenstellungen, wobei die Protagonisten in die passenden Fächer sortiert werden: Entweder ist jemand konservativ oder links, Gegner oder Sympathisant des Nationalsozialismus, Vertreter der Avantgarde beziehungsweise „einer gemäßigten Moderne“ (82) oder Anhänger traditioneller Themen und konventioneller Gestaltungsmittel. Nicht allzu oft erfolgt eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Œuvre eines Fotografen oder einer Fotografin, die über vier oder fünf Sätze hinausgeht; genau genommen ist dies nur bei nicht einmal 50 Protagonisten der Fall, und betroffen sind davon fast durchwegs solche, zu denen Monografien aus den vergangenen 30 Jahren vorliegen. Die übrigen rund 270 Personen werden zwar in der Regel namentlich zumindest einmal, gelegentlich auch öfter erwähnt, aber lediglich in Aufzählungen, die zu bestimmten Schubladen führen. Um nur an einem einzigen Beispiel den Umfang dieser nominalistischen Litaneien deutlich zu machen: Auf der Doppelseite 70/71, die zu mehr als der Hälfte Abbildungen enthält, werden auf der linken Seite 21 Namen von „konservativen Amateuren der Zwischenkriegszeit“ (70) genannt, denen auf der rechten Seite mit 15 Nennungen „eine deutlich kleinere Zahl von ästhetisch innovativen Amateur-Lichtbildnern“ gegenübersteht.
            Wie dieserart den einzelnen Personen zumeist nur eine oberflächliche Einschätzung zuteil wird, so erfährt man auch nicht, was der Autor mit den gewählten Begriffen verbindet. Inwiefern unterscheidet sich die Avantgarde von einer „gedämpften Moderne“ (62), und welcher Art ist denn die Dämpfung? Was bedeutet, dass „Neue Sachlichkeit und Neues Sehen“ bis auf ein einziges Mal ständig gemeinsam genannt werden (69, 70, 73, 98 ...), als wären es Synonyme? Oder meint Holzer, der eine Terminus kennzeichne, was betrachtet, und der andere, wie es betrachtet wird? Als ginge es bei beiden Begriffen nicht um eine neuartige Auffassung, wobei „Neue Sachlichkeit“ gewöhnlich für literarische und künstlerische Werke, „Neues Sehen“ für fotografische Ansichten Verwendung findet. Diese an mehreren Stellen spürbare, distanzierte Haltung gegenüber den ästhetischen Aspekten der Fotografie hat offensichtlich zu einem Verzicht auf notwendige Bestimmungen verleitet.
            Es mag an der Verwendung solcher nicht hinterfragter Begriffe liegen, dass manche Fotografen in Holzers Geschichte nicht vorkommen, obwohl sie Neuerungen eingeführt haben, aber diese nicht in die gewählten Schemata passen. Ich möchte nur Erwin Quedenfeldt nennen, einen ab 1924 in Wien wirkenden Deutschen, der mit der „Erwinographik“ eine Umdrucktechnik entwickelt hat, mit der sich fotografische Bilder in expressionistischer Manier darstellen ließen. Ich denke auch an Hans Böhm, der Mitte der 1920er Jahre mit lichtstarken Objektiven weltweit als erster Bühnenaufnahmen während der Vorstellung angefertigt und sie in Büchern veröffentlicht hat.
            Ebenso hätten die Gebirgs- und Landschaftsfotografen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die für die bereits erwähnten Publikationen der alpinen Vereine und für die Postkartenproduktion reichhaltiges Material lieferten, nicht beiseite gelassen werden dürfen. Zu nennen sind zumindest: Anton Karg, Karl Sandtner, Josef Rheden und Emil Terschak. Fraglich erscheint mir auch, weshalb die beiden von den 1930er bis zu den 50er Jahren in zahlreichen Druckwerken vertretenen Amateure Gebhard Roßmanith und Rudolf Roßmanith mit ihren heimatkundlichen, auf zahlreichen Reisen entstandenen Aufnahmen nicht aufgenommen worden sind. Und was die Vertreter und Anhänger der piktorialistischen Fotografie betrifft, hat der vor allem auch in Deutschland hoch geschätzte Grazer Heinrich Bachmann, der zwischen 1894 und 1928 in rund 30 Ausstellungen im In- und Ausland seine Arbeiten gezeigt und zahlreiche Textbeiträge veröffentlicht hat, ebenso keine Gnade gefunden wie Rudolf Sulke, der, obgleich oder gerade weil er bis in die 1940er Jahre Bromöldrucke fabrizierte, gleichfalls auf dem internationalen Parkett reüssierte.
            Das Fehlen einer Biografie zu Hugo Henneberg, der neben Heinrich Kühn und Hans Watzek zu den österreichischen Pionieren der Kunstfotografie um 1900 zählt, ist sicherlich auf ein Versehen zurückzuführen. Es zeigt aber, dass der Verlag ein Lektorat für nicht notwendig gehalten hat. Diesem wäre auch nicht das Malheur unterlaufen, dass in der Bildunterschrift zu einer Aufnahme von Robert Haas aus den 1930er Jahren Tilla Durieux als Paula Wessely identifiziert wird (133). Und mancher Satzfehler wäre bei entsprechend aufmerksamer Lektüre ins Auge gefallen. Doch solche Pannen sind unerheblich angesichts der einseitigen und lückenhaften Darstellung der Fotografie in Österreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
            Anton Holzer nennt seine Arbeit eine „Fotografiegeschichte“ (7) und begründet ihre Notwendigkeit, weil vor 30 Jahren die letzte Überblicksdarstellung zur „Geschichte der Fotografie in Österreich“ als begleitende Publikation zur gleichnamigen Wanderausstellung vorgelegt worden ist. Damals hatten zwölf Kuratoren – Fotohistoriker, Sammlungsleiter, Fotokünstler, Publizisten, Bibliothekare (jeweils Frauen und Männer) – Museen und private Sammlungen aufgesucht, gemeinsam Tausende Originalabzüge in Augenschein genommen, Zeitungen und Zeitschriften sowie die einschlägige Literatur durchgesehen und jeweils eine Auswahl für Ausstellung und Katalog zusammengestellt.
            Doch Holzer hat es sich einfacher gemacht, auf die Recherche in Archiven verzichtet und sich mit Beispielen aus Veröffentlichungen begnügt. Zudem hat er nicht nach den ursprünglichen Quellen gesucht, sondern seine Erkenntnisse weitestgehend aus der Sekundärliteratur bezogen. Man kann die vorliegende Publikation bestenfalls als eine Vorstudie zu einer Geschichte der Illustrationsfotografie bezeichnen. Sie umfasst weder die „Fotografie in Österreich“ in den Jahren von 1890 bis 1955 einigermaßen repräsentativ, noch darf sie sich Fotografiegeschichte nennen. Auch als „Gesellschafts- und Kulturgeschichte“ ist sie nur begrenzt von Nutzen, zumal überwiegend politische Aspekte angesprochen werden, aber beispielsweise literarische Genres vollkommen ausgeklammert bleiben. Der Autor ist seinen Ansprüchen in keiner Hinsicht gerecht geworden.

Erwähnte Literatur
FotoBibl. Biobibliografie zur Fotografie in Österreich, begonnen 1995, in: http://fotobiobibliografie.albertina.at/d/fotobibl/einstieg.html bzw. über http://sammlungenonline.albertina.at.
Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Band 6: 20. Jahrhundert, hrsg. von Wieland Schmied, Redaktion Irma Trattner, München, London, New York: Prestel, 2002, S. 616.
Anton Holzer, „Fotografisches Feuilleton. Der Sonntag – ein vergessenes Forum moderner österreichischer Reportagefotografie“, in: Fotogeschichte, Heft 128, 2013, S. 25-48; Kurzfassung unter dem Titel „Zeitkritik mit der Kamera“, in: Wiener Zeitung, 17./18. Aug. 2013, extra, S. 33-34.
Anton Holzer, „Der Orient beginnt in Albanien. Josef Roths albanische Feuilletons und die Geschichte der Fotografenfamilie Marubi“, in: Fotogeschichte, Heft 103, 2007, S. 13-21.
Anton Holzer, „Eine vergessene Fotografin“, in: Wiener Zeitung, 10./11. Juli 2010, extra, S. 11.
Anton Holzer, „Die vergessene Avantgarde“, in: Wiener Zeitung, 27./28. Okt. 2012, extra, S. 11.
Anton Holzer, „The History of Austrian Photography. 1900 – 1938“, in: The History of European Photography 1900 – 1938, 2 Bde., ed. by Václav Macek, Bratislava: Central European House of Photography, FOTOFO; Vienna: Eyes On – Month of Photography/Kulturabteilung der Stadt Wien, 2010.
Anton Holzer, „Viele Zentren – und viele Peripherien“, in: Neue Zürcher Zeitung. Literatur und Kunst, 16. April 2011.
Anton Holzer, „Vorwärts. Und schnell vergessen. Die österreichische Fotografie nach 1945 hat mit der NS-Zeit mehr zu tun, als vielen lieb ist. Was wurde aus den nationalsozialistischen Mitläufern und Sympathisanten unter den Fotografen? Eine Recherche.", in: Die Presse, 12. Okt. 2013
Metroverlag, Nur du allein. Die neuen Bücher im Herbst 2013, Wien 2013, S. 24.
Nouvelle Histoire de la Photographie, Sous la direction de Michel Frizot, Paris: Adam Biro/Bordas, 1994; deutsche Fassung: Neue Geschichte der Fotografie, hrsg. von Michel Frizot, Köln: Könemann, 1998.
Prestel-Lexikon der Fotografen. Von den Anfängen 1839 bis zur Gegenwart, Mit Glossar, hrsg. von Reinhold Mißelbeck, München, Berlin, London, New York: Prestel, 2002, S. 239.
Edith Tudor Hart. Das Auge des Gewissens, Mit einem Text von Wolf Suschitzky, Berlin: Dirk Nishen, 1986 (Das Foto-Taschenbuch 6)
Edith Tudor-Hart. Im Schatten der Diktaturen, hrsg. von Duncan Forbes für die National Galleries of Scotland, Edinburgh und das Wien Museum, Mit Texten von Duncan Forbes, Anton Holzer und Roberta McGrath, Ausstellungskatalog Wien Museum, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013.

Oktober 2013

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© Timm Starl 2013

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