Den Autoren geht es jedoch in erster Linie um früher bereits entwickelte „Standards der Bildbetrachtung und Bildwiedergabe, nach denen im 19. Jahrhundert auch die ersten fotografischen Aufnahmen ausgerichtet und interpretiert wurden.“ (67) Angelegt waren die Sehgewohnheiten bereits in der Camera obscura, die seit Jahrhunderten in Gebrauch war. Behandelt werden in gesonderten Abschnitten die Konstruktion und Funktionsweise sowie die Anwendungen bis hin zu „Nachbauten“ und der „(Publikations)geschichte zur Camera obscura“. Vorgestellt werden ebenso die tragbaren Kameras wie solche, für die ein ganzes Zimmer als Dunkelkammer eingerichtet worden war. Wir erfahren, dass die Geräte sowohl als Zeichenhilfe als auch zur Motivsuche eingesetzt wurden und in Kombination mit dem Sonnenmikroskop zur Projektion Verwendung fanden.
Folgt man den ebenso in Einzelheiten gehenden wie zusammenfassenden Erörterungen, wird unverständlich, weshalb Jonathan Crary in seinen Techniken des Betrachters von 1996 erst die Einführung der Fotografie im 19. Jahrhundert dafür verantwortlich macht, dass „Wahrnehmungen standardisiert und Wahrnehmungsmuster objektiviert wurden“ (106). Bestimmt wie lakonisch und korrigierend kommen die Autoren zu dem Schluss: „Die Fotokamera ist einer Fortführung der Camera obscura [...]“ (112)
Im „Katalogteil“ des Bandes präsentiert Matthias Müller Entwürfe und Beschreibungen von rund 130 Geräten, beginnend mit einer Skizze von Leonardo da Vinci aus dem Jahr 1492 (118) und abschließend mit der von Friedrich August Wilhelm Netto „1842 vorgestellte[n] Camera obscura zur Anfertigen von Kalotypien“ (217). Was den Band angenehm unterscheidet von vergleichbaren Veröffentlichungen, insbesondere jenen, die auch theoretische Aspekte berühren, ist die reichhaltige Illustrierung. Im Gegensatz zu den Publikationen der wortreich argumentierenden Kunsthistoriker der jüngeren Zeit, die nur spärlich Bildmaterial einsetzen, wird hier deutlich gemacht, dass theoretische Überlegungen des Fundaments der Praxis bedürfen, die es – insbesondere bei Bildmedien – zur Anschauung zu bringen gilt. Die Herausgeber haben sich sogar die Mühe gemacht, Bildschirmprojektionen in historischen Camerae obscurae anzustellen und abzubilden.
Wer sich mit dem Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert auseinandersetzt und verstehen will, welche Sichtweisen bereits eingeübt waren und welche Bildbedürfnisse sich daraus gebildet hatten, darf an dem vorliegenden Band nicht vorübergehen. Er wird sich dann beispielsweise fragen, ob sich der Erfinder Joseph Nicéphore Niépce für den Stillstand interessierte oder vielleicht doch für die Bewegung, als er für seinen „Point de vue pris de la fenêtre du Gras“ von 1926/27 rund acht Stunden Belichtungszeit aufwendete und den wechselnden Einfall des Lichts aufzeichnete. Oder weshalb der Pariser Fotograf Nadar in den 1860er Jahren die Metropole vom Ballon aus, also von einem sich fortbewegenden Standort aus, in einer Sequenz fotografierte, wodurch sich in den sich verändernden Perspektiven die Bewegung des Fluggeräts verfolgen ließ. Die Beschäftigung mit der Camera obscura lässt die Fotografie, zumindest manche ihrer Hervorbringungen, in durchaus neuem Licht erscheinen.
Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.
Erwähnte Literatur
Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert [1990],
Aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein, Dresden: Verlag der Kunst, 1996
Oktober 2013
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© Timm Starl 2013
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