Fotokritik |
Timm Starl
Von Anordnungen und Fundstücken
Dorothea Ritter, Dietmar Siegert, Zdenek Primus (Hrsg.)
Das Leben der Dinge / The Life of Things
Die Idee vom Stilleben in der Fotografie 1840 – 1985 /
The Idea of Still Life in Photography 1840 – 1985
The Siegert Collection
Heidelberg: Edition Braus, 2006
28 : 23,3 cm, 217 (+1) S., 1 Bl., 157 Abb. in Farbe und SW
Leinen
€ 45,-
Fotografische Stilleben sind anders: Zwar gilt Roland Barthes' Diktum von der einzigen Gewissheit, dass gewesen ist, was die Bilder zeigen, auch für diese, aber was für Porträts von Menschen, Ansichten von Gebäuden, Schnappschüssen von Ereignissen von besonderer Bedeutung ist, hat hier einen anderen Stellenwert. Dass etwas gewesen ist und sich im Augenblick der Aufnahme so dargestellt hat, verweist immer auch auf seine Zeitlichkeit, nämlich dass es im nächsten Moment gar nicht mehr existiert oder anders ausgesehen hat und wahrgenommen worden ist. Das „Gewesen“ rührt vom „Sein“, spricht also vom Leben und von Veränderungen, die unabhängig von fotografischen Aktionen geschehen. Wogegen die Vorlage des fotografischen Stillebens überhaupt nur auf eine einzige Aufnahme hin arrangiert worden ist. Die Anwesenheit der Dinge vor der Kamera fällt mehr oder weniger mit der Betätigung des Auslösers zusammen, denn danach werden sie gewöhnlich entfernt oder neu geordnet. Ihr Bestandsein erschöpft sich im Fotografischen.
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Ludwig Belitski: „14 Venezianische und Deutsche Gläser und 1 orientalische Glas-Vase von Milch-
und Opalglas, 16., 17. und 18. Jahrhundert“,
1854 (aus dem besprochenen Band, S. 51) |
Pietro Guidi: „Vitis Vinifera“, um 1870 (aus dem besprochenen Band, S. 67) |
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Aus einem solchen Befund kann – wenn man will – eine Abgrenzung resultieren, was alles zum fotografischen Stilleben zu zählen ist. Dazu gehören sicherlich die Arrangements von leblosen Dingen im Sinne der klassischen Definition. Es zählen aber auch Mikrofotografien, Fotogramme und Röntgenaufnahmen dazu, sofern keine lebenden Organismen Verwendung finden. Wie aber verhält es sich mit den idyllischen Szenarien, die von einem Fotografen oder einer Fotografin zufällig vorgefunden worden sind? Oder mit Lebenden Bildern, Fotomontagen und wenn Menschen in die Arrangements einbezogen werden? Was ist mit der Zusammenstellung in einer Museumsvitrine, den Requisiten in einem Geräteschuppen und der Skelettsammlung in einer Katakombe? Dürfen der Zufall, der ja ein wesentliches Konstitutiv des Fotografischen darstellt, und das Lebendige, das im Begriff des Still-Lebens festgeschrieben ist, in das Spektrum dieses fotografischen Genres eingereiht werden?
In der Einführung des Katalogbuches, das anlässlich der Ausstellungen in der Galerie der Stadt Prag 2005/2006 und im Museum der Kunst, Olomouc 2006 erschienen ist, setzt sich Dorothea Ritter mit dem Begriff und seinen Bedeutungen in Malerei und Fotografie auseinander. Sie kommt zu dem Schluss, dass „die Fotografie durch eine Erweiterung der technischen Möglichkeiten und Materialien sowie neuer Sichtweisen und Perspektiven“ sich gegenüber den gängigen Vorstellungen und Vorgaben der Kunst emanzipiert habe (17/18). Auch gehöre es zu ihrer „Eigenschaft, Leben zu fixieren, um es im selben Moment als eine Art memento mori zu stilisieren“ (18). Der neu geschaffene Raum provoziere andere Formen der Darstellung und erweitere die Sphären der Wahrnehmung – er führe also zu neuen Motiven und anders gearteten Blicken auf diese.
Die folgenden Ausführungen unterwerfen sich einer zeitlichen Gliederung: „Zwischen akademischer Tradition und Experiment. Fotografie und Stilleben im 19. Jahrhundert“ und „Von den unbekannten, nur zu bekannten Dingen. Metamorphosen der Stillebenfotografie im 20. Jahrhundert“. In den beiden Kapiteln wird kunst- wie fotohistorisch – leider unter weit gehendem Verzicht auf kulturgeschichtliche Aspekte – argumentiert; gelegentlich werden Überlegungen foto- und medientheoretischer Natur angestellt sowie an einzelnen Bildbeispielen die Behauptungen geschärft oder Analysen von den präsentierten Werken aus unternommen. Obwohl sich die Autorin nur aus einer einzigen Kollektion bedient, sieht sie gelegentlich über deren Rand hinaus und geht auch auf andere Kompositionen ein. Manch einer wird jedoch bedauern, dass in solchen Fällen keine Illustrationen beigegeben sind. Denn nicht jedem sind beispielsweise die Arbeiten von William Henry Fox Talbot in The Pencil of Nature geläufig, worauf ausführlich eingegangen wird (23/24).
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David Hockney: Swimmingpool mit Paddel, um 1975 (aus dem besprochenen Band, S. 133) |
Jan Hajn: „Brennessel“, um 1959 (aus dem besprochenen Band, S. 199) |
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Davon abgesehen kann sich Ritter auf teilweise hervorragendes und auch vielfältiges Material stützen, das von dem Sammler Dietmar Siegert zusammengetragen worden ist. (Es sei bei dieser Gelegenheit hervorgehoben, dass es sich um einen exzellenten Kenner fotografischer Kunst und Geschichte handelt, der immer wieder und bereitwillig Exemplare seiner Kollektion Museen für Ausstellungen und Autoren für Buchpublikationen zur Verfügung stellt beziehungsweise in eigenen Projekten verwertet.) Die Frühzeit der 1840er und 50er Jahre ist nicht allzu reichhaltig vertreten – nur zwei Daguerreotypien können angeführt werden –, aber für die Zeit danach decken die vorhandenen Stücke den Horizont wenn nicht repräsentativ, so doch recht gut ab. Vor allem ist eine Reihe unbekannter Studien vornehmlich anonymer Herkunft und hierzulande kaum bekannter Bildautoren aus der ehemaligen Tschechoslowakei zu entdecken. So bildet dieser erste Ansatz einer Gesamtdarstellung im deutschsprachigen Raum zur Entwicklung des Stillebens in der Fotografie einen gelungenen Anfang, der den seit etwa zwei Jahrzehnten bestehenden Diskurs zum Thema um einige Aspekte erweitert. Februar 2007 ................................................................................................................................................................
© Timm Starl 2007
PDF - 357kb
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