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Fotokritik

Timm Starl
Ein Museum von innen

Ausstellung
„Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit“
Wien, Wien Museum: 25. April – 6. Oktober 2013

Wir befinden uns im Wien Museum, das einen Salamiverkäufer in einem kolorierten Kupferstich aus der Zeit um 1800 vorstellt und zwei Blumenmädchen in einem Gemälde von Josef Engelhart aus dem Jahr 1903; wo darüber aufgeklärt wird, was ein Pfleiderer und ein Zwiebelkrawot, eine Hökerin und ein Schneckenweib waren; auf welche Weise jüdische Wanderhändler in Bildern dargestellt worden sind; dass manche Fotografen Modelle engagiert und eingekleidet haben, um sie im Atelier als allerlei Typen Pose stehen zu lassen; wie viele ambulante Berufe es gegeben hat, die auf der Straße ihren handwerklichen Tätigkeiten nachgegangen sind oder Waren angeboten haben und welche andere Figuren man noch als „Wiener Typen“ angesehen hat; wer über diese in welcher Publikation geschrieben hat, wie sie in Postkarten aufgetreten sind oder von Zeitschriften wahrgenommen wurden.
            Zur Illustrierung wird eine Menge Material unterschiedlichen Zuschnitts dargeboten: etwa 300 grafische Darstellungen und sieben Gemälde, eine Grafikmappe, 135 Fotografien und eine Fotomappe, 37 Bücher und fünf Reiseführer, vier Stadtpläne, zehn Notenblätter und Liedtexte sowie vier Schallplattenhüllen, fünf Filme und ebenso viele Dia-Shows, acht Titel- und Textblätter, 25 Figuren aus Porzellan und anderen Materialien, sieben Plakate, ein Inventarverzeichnis, ein Teppich, ein Vogelkäfig, eine Drehorgel und eine Harfe, ein Glas, ein Holztischchen, ein Waschbrett und ein Teppichklopfer, ein Briefbeschwerer, eine Laterne, ein Stock, eine Säge und noch dies und das – möglicherweise habe ich das eine oder andere übersehen und mich auch verzählt.
            Nicht entdecken konnte ich unter den über 500 Exponaten solche zu den sogenannten „Grabennymphen“, die sich in der Wiener Innenstadt den Männern angeboten haben und von denen eine der Wiener Berufsfotograf Otto Schmidt in den 1870er Jahren fotografisch dargestellt und in seine Serie der „Wiener Typen“ eingereiht hat. Während also das „leichte Mädchen“ von den Kuratoren nicht als stadttypisch angesehen wurde, ist der „Pülcher“, ein „schwerer Junge“ kleineren Zuschnitts, mit einer Aufnahme Otto Schmidt aus einer späteren Serie von 1886 vertreten. Nun wird man ein Straßenmädchen ebenso wenig für Wien als kennzeichnend finden wie einen Kleinkriminellen, zumal beide in jeder anderen Großstadt und zur gleichen Zeit aufgetreten sind. Der quantitative Aufwand zielt bei dieser Veranstaltung also nicht allein auf eine möglichst umfassende Behandlung des Themas, sondern verbirgt zugleich und voluminös, was nicht gezeigt werden soll.
            Sehr viel bedeutender und ärgerlicher als die Absenz dieses oder jenes Typus’ ist das Fehlen von Überlegungen zur sozialen und ökonomischen Situation des gesamten Milieus. Die gelegentlichen Hinweise auf die Armut der Protagonisten bleiben ebenso Randnotizen, wie ihr Auftreten in der Öffentlichkeit nur eine Facette ihres Daseins freigibt. Zu sehen sind ausschließlich jene Stunden des Alltags, in denen sie auf Augenhöhe ihrer Kundschaft gegenüber sowie mit ihnen in Verhandlung treten und ein Tauschgeschäft abwickeln. Doch diese Typen sind nicht sichtbar als Teil jenes größeren Elends, bei dem die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts und bis nach der Jahrhundertwende in den Fabriken und Manufakturen unter schwierigen und gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen ausgebeutet werden und in miserablen Wohnquartieren oder in Ruinen und Kanälen die Nächte verbringen müssen. Indem im Wien Museum vorwiegend die berufliche Orientierung und die öffentliche Präsenz herausgestellt werden, wird ein ebenso einseitiges Bild gezeichnet, wie ehemals die käuflichen Artefakte einer bürgerlichen Klientel als ein Souvenir angeboten wurden, das von einer verschwindenden Welt kündigte, von der man nur ihre folkloristische Seite kannte und auch nicht mehr wissen wollte.
            Wenn die Wiedergaben aussterbender Straßenberufe als „Gegenbild der Moderne“ (Begleitblätter) interpretiert werden, so stellt sich doch die Frage, weshalb es solcher Gegenbilder bedurfte. Welche Sehnsüchte und Ängste der bürgerlichen Schichten standen in den jeweiligen Epochen dahinter? Gehört vielleicht die Gleichzeitigkeit von ökonomischer Prosperität und zunehmendem Wohlstand auf der einen und die geringe Teilhabe des Bürgertums an den politischen Entscheidungen im 19. Jahrhundert zu den bestimmenden Faktoren? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen der Konstituierung von urbanen Typen und den typologischen Erkundungen eines Cesare Lombroso, den Mischfotografien eines Francis Galton und den erkennungsdienstlichen Aufnahmen eines Alphonse Bertillon? Bedeutete diese Bildwelt nicht auch die Möglichkeit der Abgrenzung und Distanzierung, also der Hang zu einem Gesellschaftsmodell, das bestimmte Gruppierungen typologisch vermisst, um sie auf Abstand zu halten?
            Solche Fragen haben sich die Ausstellungsmacher nicht gestellt, was schon deshalb verwundert, weil das Wien Museum kritische Kulturwissenschaftler wie Susanne Preuss und Sándor Békési zu seinen Mitarbeitern zählt. Stattdessen werden mit positivistischem Behagen die Depots des Hauses gewissermaßen nach außen gestülpt und zu einem Rundgang arrangiert. Von den Kaufrufen des 18. Jahrhunderts bis zu Filmen aus dem 20. finden sich alle möglichen Typen, die auf Wiener Straßen präsent waren und noch sind, auf- und in jeder erdenklichen Darstellung vorgeführt. Hinter der Masse und Vielfalt des angebotenen Materials gehen jedoch die spärlichen Verweise auf die „Wirklichkeit“, wie sie der Untertitel der Ausstellung beschwört, unter und vermögen nicht zu verhindern, dass die „Klischees“ von damals auch für heute nicht ausgeräumt werden. Wie schon in früheren Veranstaltungen – man denke an „Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war“ von 2004/05 oder an „Zauber der Ferne. Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert“, von 2008/09 – stellt sich das Museum selbst aus und breitet seine Schätze für ein konsumistisch orientiertes Publikum aus. Die „Wiener Typen“ sind weniger eine Ausstellung als eine Schaustellung. Man kann nur hoffen, dass der für Sommer angekündigte Katalog sich eingehender mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten befasst und mehr bietet als Informationen zum Aussehen, zur Herkunft sowie dem Aufkommen und Verschwinden von Straßentypen in Wien.
           
Erwähnte Bilder
„Grabennymphe“ und „Bei der Burgmusik“, in: Otto Schmidt. Wiener Typen und Straßenbilder, hrsg. von Helfried Seemann, Mit einem Text von Hubert Kaut, Wien: Album Verlag, Seemann & Lunzer, 2000, S. 17 und 87.

Juli 2013

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© Timm Starl 2013

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