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Fotokritik

Timm Starl
Draufgaben und Fingerübungen

Bernd Stiegler
Randgänge der Photographie
München: Wilhelm Fink, 2012
23,3 x 15,7 cm, 308 S., 153 SW-Abbildungen
Broschiert
€ 39,90

Bernd Stiegler kann durchaus der fleißigste Publizist zu fotogeschichtlichen Fragen im deutschsprachigen Raum genannt werden. Wir verdanken ihm unter anderem die wichtige Theoriegeschichte der Fotografie von 2006, in die historisches Bildmaterial leider nur spärlich Eingang gefunden hat. Dieses Manko verbindet ihn gleichwohl mit den meisten Kollegen und Kolleginnen, die sich mit theoretischen Problemen auseinandersetzen und auf die sprachlichen Kompetenzen mehr geben als auf bildliche Argumente. Allerdings sind ihm die gängigen Bilder der Photographie durchaus geläufig, wenn er sie für ein Album photographischer Metaphern in Anspruch nimmt und seine Kommentare mit Hinweisen vorwiegend aus der Sekundärliteratur unterlegt. Er beherrscht also souverän und gleichermaßen den bedachten wie flotten Umgang mit Quellen und verfügt über eine profunde Kenntnis der einschlägigen Literatur und der veröffentlichten Bildwelt, von denen er sich immer wieder Anregungen holt.
            So hält es Stiegler auch bei einigen Beiträgen in der vorliegenden Anthologie, wenn er nicht nur eigene frühere Erkundungen zum Ausgangspunkt nimmt oder sich daraus bedient. Es sollen zwar, wie in der Vorbemerkung angekündigt, „[n]icht große Photographen und klangvolle Namen, nicht die Klassiker und Inkunabeln der Photographiegeschichte“ im Zentrum stehen (7), was aber nicht recht beziehungsweise nur dann gelungen ist, wenn sich der Autor im Reich der Spiritisten und Feen umschaut. Ansonsten treten die geläufigen Akteure von Gustave LeGray über Francis Galton und Alvin Langdon Coburn bis Alfred Stieglitz, von William Henry Fox Talbot über Adget (sic, 125) bis August Sander und Albert Renger-Patzsch, von Alexander Gardner und Francis Bedford über Robert Capa bis William Eggleston als Bildproduzenten, Roland Barthes und mehr als einmal Walter Benjamin als Theoretiker auf. Mit der Wahl der Themen wird der Anspruch, diversen Erscheinungen der Fotografie von den Rändern her nachzugehen, erfüllt, und die Randgänge führen zudem über das Medium hinaus, kommen aber nicht weiter als bis zur Literatur und zu den Bildkünsten. Einige Aspekte werden ausführlich behandelt, andere bloß gestreift, manches wird übersehen, das eine besser, das andere weniger stark illustriert. So tut sich ein bunter Korb auf, in dem sich trefflich stöbern lässt, zumal Stiegler anregend zu formulieren weiß.
            Der mit Abstand interessanteste Essay geht von der Kritik Benjamins an dem Band Die Welt ist schön von Renger-Patzsch aus dem Jahr 1928 aus, wendet diese nach allen möglichen Seiten, observiert gleichermaßen die Äußerungen des Fotografen und resümiert, dass die beiden Protagonisten „zwei unterschiedliche Sprachen der Moderne oder, mit anderen Worten, zwei Lesestrategien, die die Gegenwart in je unterschiedlicher Weise in den Blick nehmen“, entwerfen (137). Auch wenn der Begriff der Moderne als Absolutum gehandhabt und als nicht zu hinterfragender Fixstern am Horizont leuchtet, so sind die verschlungenen Pfade der Beweisführung, auf denen der Autor wandelt, recht aufschlussreich. Später, wenn er sich mit ähnlicher Intensität Arthur Conan Doyle und dessen Begründungen für die Existenz von Elfen anhand von Fotografien widmet, kommt er zu dem Schluss, man lerne allemal zwei Dinge, nämlich „bestimmte Fehler bei der Deutung von Photographien zu vermeiden und zugleich Fehldeutungen als historischen Befund zu lesen.“ (176) Wer wollte dem widersprechen.
            Am Beginn der Textsammlung sind mehrere „kleine Geschichten“ platziert, wobei mich jene zur „Wolkenphotographie“ (11) besonders angesprochen hat, nachdem ich selbst eine solche verfasst und 2009 veröffentlicht habe, die von Stiegler 2012 entdeckt worden ist. Ein „kleine Geschichte der Typusphotographie“ (27) ist allerdings zu kurz geraten. Wenn denn neben die Kompositfotografien eines Galton ab Ende der 1870er Jahre als „zweite Tradition“ (45) Sanders Antlitz der Zeit und dessen Menschen des 20. Jahrhunderts gestellt werden, dann wurden die zahlreichen ethnologischen und anthropologischen Untersuchungen samt fotografischen Dokumentationen ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert übersehen. Und in diese Kategorie fallen nicht zuletzt die populärwissenschaftlichen Zusammenstellungen eines C. H. Stratz, dessen Bücher unter anderem zur Rassenschönheit des Weibes zahlreiche Auflagen von der Jahrhundertwende bis 1940 erlebt haben. Ganz zu schweigen von den rassekundlichen Sammlungen der Nationalsozialisten.
            Mit einer „kleine[n] photographische[n] Fehlerkunde“ (61) tritt Stiegler in die Fußstapfen Peter Geimers und seiner Bilder aus Versehen von 2010 und ergänzt diese um die „glücklichen Fehler“ (72). Leider hat er kein Beispiel gefunden, wobei eine Kreation von Herbert List, die er 1953 in Licht über Hellas veröffentlicht hat, anschaulich illustriert hätte, wie ein vergessener Filmtransport zu einer berühmten Doppelbelichtung führen konnte. Doch nicht jedem ist das Bekenntnis des Fotokünstlers bekannt, jedoch hätten stattdessen allerlei Knipserprodukte herangezogen werden können. Zumal deren „misslungene“ Hervorbringungen oft surreale Züge tragen, außergewöhnliche Abstraktionen ergeben und nicht selten von eigenartigem Reiz sind. Ohnehin wären doch „Randgänge“ zur privaten Fotografie ergiebiger gewesen als die Aufzählungen aller möglichen Obskurantismen in einer „kleine[n] Metaphysik der Photographie“ (79), wo zwischen „Astrallicht“ (84) über „Gedankenphotographie“ (96) bis zu „Marienerscheinungen“ (105) wohl keine noch so entlegene Praxis der Vergangenheit ausgelassen wurde. Doch der Autor erhebt auch „keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit“ (80), und so ist es gut möglich, dass er eine „andere Geschichte der Photographie“ (81) im Sinn hat, die uns ein weiteres Mal in die Lage versetzen soll, auch die kuriosesten Irrgänge als historischen Befund zu lesen.

Erwähnte Literatur
Peter Geimer, Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg: Philo Fine Arts, 2010 (Fundus-Bücher, 178)
Herbert List, Licht über Hellas. Eine Symphonie in Bildern, München: Georg D.W. Callwey, 1953
Albert Renger-Patzsch, Die Welt ist schön. Einhundert photographische Aufnahmen, hrsg. und eingeleitet von Carl Georg Heise, München: Kurt Wolff, 1928
August Sander, Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts, Mit einer Einleitung von Alfred Döblin, München: Kurt Wolff/Transmare Verlag, 1929
August Sander, Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen, Hrsg. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, bearbeitet und neu zusammengestellt von Susanne Lange, Gabriele Conrath-Scholl und Gerd Sander, 7 Bände, München: Schirmer/Mosel, 2002
Timm Starl, „Eine kleine Geschichte der Wolkenfotografie / A Brief History of Cloud Photography“, in: stark bewölkt. flüchtige Erscheinungen des Himmels / clouds up high. fleeting figures in the sky, hrsg. von Berthold Ecker, Johannes Karel, Timm Starl für die Kulturabteilung der Stadt Wien / for the Department of Cultural Affairs of the City of Vienna, Ausstellungskatalog MUSA Museum auf Abruf, Wien 2009
Bernd Stiegler, Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006 (es 2461)
Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, München: Wilhelm Fink, 2006 (Bild und Text)
C.H. Stratz, Die Rassenschönheit des Weibes, Stuttgart: F. Enke, 1901, [...] (21. Aufl.) 1940

Februar 2013

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© Timm Starl 2013

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