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Fotokritik

Timm Starl
Harsewinkel

Volker Jakob, Stephan Sagurna
Zeitenwende
Aspekte der Westfälischen Fotografie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Hrsg. vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)
Bönen: Druck-Verlag Kettler, 2012
28,5 x 26,3 cm, 211 S., 169 Abb. in Farbe
Gebunden
€ 19,90

Das Bild auf dem Einband täuscht. Der junge Mann auf dem Hochrad macht den Eindruck, als wolle er an einer Hausmauer vorbeifahren und um die Ecke biegen. Doch er musste im nächsten Augenblick abspringen, denn er befand sich in einem Fotoatelier, was nicht erkennbar ist, weil für die Wiedergabe der Aufnahme einige Partien abgedeckt beziehungsweise überarbeitet worden sind. All dies verrät ein Vergleich mit der vollständig reproduzierten Fotografie im Inneren des Bandes, doch wer wollte den Gestaltern in Zeiten alltäglicher digitaler Bildbearbeitung solche Korrekturen vorwerfen. Die Aufnahme ist um 1885 entstanden, also kurz nachdem Johann Hermann Jäger sein Atelier in Harsewinkel eröffnet hatte. Und schließlich geht es nicht um die Verpackung einer Publikation, sondern um Harsewinkel, wo vier Generationen der Jägers fotografisch aktiv gewesen sind. Aus einem Bestand von rund 2.000 Aufnahmen, den die Nachkommen dem Bildarchiv des Landesverbandes Westfalen-Lippe als Dauerleihgabe überlassen haben, wurden neben Porträts der Familie etwa 150 Ansichten von Land und Leuten der Umgebung vornehmlich aus der Zeit um 1900 ausgewählt und abgebildet.
            Das Spektrum der Motive ist ebenso begrenzt, wie Harsewinkel mit seinen knapp 900 Einwohnern im Jahr 1884 zu den kleineren Städten gehört hat. Aus diesem Grund konnte ein Fotobetrieb seinen Besitzer nicht ernähren, und J.H. Jäger (1845–1920) führte daneben das Buchbindergewerbe seines Vaters weiter. Die auffälligste Aufnahme entstand Mitte der 1880er Jahre und führt die beiden Berufe auf anschauliche Weise zusammen: Der Fotograf stellte auf dem Kirchplatz einen bemalten Atelierhintergrund auf und befestigte daran ein Porträt seines Vaters. Davor wurde die Werkstatt eines Buchbinders arrangiert und der älteste Sohn auf einen Drehsessel gesetzt, um die Szenerie zu beleben. Dieser wird später gemeinsam mit einem der Brüder den Fotobetrieb führen, und so steht das Bild ebenso für die familiäre Tradition wie für den Wechsel der beruflichen Orientierung.

 

Johann Hermann Jäger: „Alte Buchbinderei“, um 1885 Johann Hermann Jäger: „Alte Buchbinderei“, um 1885, 10,5 x 13,7 cm (aus dem besprochenen Band, S. 46)

 

            Nachdem das Geschäft mit der Buchbinderei nach und nach zum Erliegen gekommen ist, hat J.H. Jäger einen Handel mit Glas-, Porzellan- und anderen Waren aufgemacht und diesen später um Geschenkartikel und Schreibwaren ergänzt. Die Warenvielfalt demonstriert eine Aufnahme von etwa 1915, in der der Patron wie ein Kunde vor der Theke und neben einem Ständer mit illustrierten Postkarten posiert.
            Ansonsten enthält der Band überwiegend Atelier- und Freilichtansichten, wie sie die Kollegen jener Jahre in vergleichbaren Orten zuhauf produziert haben. Aus dem Rahmen fallen zwölf Autochrome aus den Jahren 1912 bis 1936, also Reproduktionen jenes ersten praktikablen Farbfotografieverfahrens, das 1907 auf den Markt gekommen ist. Wer sie jeweils angefertigt hat, ist nicht verzeichnet. Gegenüber den Hervorbringungen anderer Lichtbildner, die diese Technik angewandt haben, fallen sie zumeist recht flau aus. Und so täuscht letztlich auch der Untertitel der Veröffentlichung, der „Aspekte der Westfälischen Fotografie“ verheißt, wenn doch der Blick über Harsewinkel kaum hinausreicht.

Februar 2013

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© Timm Starl 2013

PDF - 137kb

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