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Fotokritik

Timm Starl
Die Herren von Oldenburg

Lioba Meyer (Hrsg.)
Das Gedächtnis der Stadt
Fotografiegeschichte in Oldenburg
Mit Beiträgen von Rolf Ahlers, Kurt Dröge, Robert Geipel, Detlef Hoffmann, Lioba Meyer, Wolf-Dieter Raabe, Maren Ullrich und Andreas von Seggern
Buch zur Ausstellung, 15. September – 25. November 2012
(Veröffentlichungen des Stadtmuseums Oldenburg, Bd. 64)
Oldenburg: Idensee Verlag, 2012
24 x 21 cm, 202 S., 212 Abb. in SW und Farbe
Broschiert
€ 19,90

 

Gustav Alexander Thal: „Empfang des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am Oldenburger Hauptbahnhof, 7. Mai 1927“

Gustav Alexander Thal: „Empfang des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am Oldenburger Hauptbahnhof, 7. Mai 1927“ (Einband vorne)

 

Hindenburg kommt! Es ist der 7. Mai 1927, und die Honoratioren der Stadt sind am Oldenburger Hauptbahnhof angetreten, um den Reichspräsidenten zu empfangen. Hinter und vor dem Spalier aus vorwiegend älteren Herren haben die Filmleute ihre Kameras in Stellung gebracht, Männer mit Handkameras halten sich in der Nähe der Ehrenformation auf. Bis auf einige Angehörige der Reichswehr, einem Fotografen mit Stativkamera und zwei Herren mit Schirmmütze und Hut ist der große Platz leer. Das Publikum durfte nur aus der Ferne der Zeremonie beiwohnen und frequentiert die Gehsteige vor dem geschmückten Hotel Deus. Der ortsansässige Gustav Alexander Thal hat einen erhöhten Standpunkt gewählt, um die Szene möglichst weitläufig fotografisch festzuhalten. Die Aufnahme ziert den Einband der Katalogpublikation und deutet bildlich an, was auf den folgenden Seiten Gegenstand ist: der Versuch der Verlebendigung vergangener Augenblicke in einer Stadt anhand von bildlichen und schriftlichen Zeugnissen, von zahlreichen Fotografien und wenigen Zeichnungen, von Briefauszügen und teilweisen Wiedergaben von Gesprächen.
            Der thematische Radius ist breit angesetzt und folgt den Vorgaben von Detlef Hoffmann, der im ersten Beitrag umreißt, was das Gedächtnis einer Stadt ausmache: die Gebäude und Straßen, die sich im Laufe der Jahre gewandelt haben oder verschwunden sind; die Personen und Firmen, die Unterlagen hinterlassen haben; Produkte der Malerei, Zeichnung und Fotografie, die Ausschnitte festgehalten haben und symbolhaft herausstellen; Zeitzeugen, die über vergangene Gegebenheiten berichten können. Doch die überlieferten Gegenstände und Bilder sowie die Erzählungen und Fingerzeige stehen jeweils für sich, und es bedarf der begleitenden Rede, um Zusammenhänge herzustellen und auch auf das zu weisen, was in Bild, Schrift und Ton nicht berücksichtigt ist. Die Materialien müssen in den Moment ihres Entstehens und die Bedingtheiten der Zeit eingeordnet werden, ihre Produzenten sind nach ihren Verfasstheiten und Interessen einzuschätzen. Nicht zuletzt sollen die Medien, die eingesetzt worden sind, auf ihre Möglichkeiten und ihre ungenutzten Potentiale befragt werden.
            Angenehm ins Auge fällt im gegebenen Fall zu allererst, dass man sich dem Thema aus ganz verschiedenen Blickwinkeln genähert hat. Dabei wurden entsprechend dem Anspruch des Untertitels vorrangig fotografische Aufzeichnungen herangezogen. Detlef Hoffmann beleuchtet mit kunst- und fotohistorischer Sorgfalt die bildlichen Inszenierungen von vorwiegend öffentlichen Bauwerken des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre. Die Herausgeberein Lioba Meyer nennt mit lokalgeschichtlicher Kenntnis die Aktivitäten der etwa einhundert Lichtbildner in Oldenburg vom ersten Wanderfotografen 1845 bis in die 1950er Jahre. In einem weiteren Beitrag verfolgt sie exemplarisch den Werdegang eines erfolgreichen Fotobetriebes, der noch heute existiert. Maren Ullrich beschäftigt sich mit „Ansichten der Oldenburgischen Glashütte“ (79), die Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet worden ist; insbesondere stellt sie die Platindrucke aus einer Bildermappe von 1898 vor, die das Unternehmen in Auftrag gegeben hatte. Andreas von Seggern begleitet das Tun eines aus Oldenburg kommenden Regimentsfotografen im Ersten Weltkrieg, der unter anderem den Bedarf der Soldaten an Bildern von Gräbern und Schlachtfeldern gedeckt hat. Kurt Dröge wirft einen „Blick [...] auf die Familiengeschichte einer (auch) wirtschaftlich bedeutsamen Dynastie“ (155) und registriert aufmerksam die fotografischen Selbstdarstellungen des Unternehmens und der Firmeneigner über mehrere Generationen.

 

Carl Wöltje: „Postkarte an Leni Wöltje, Vorderseite, 9.6.1917“

Carl Wöltje: „Postkarte an Leni Wöltje, Vorderseite, 9.6.1917“ (S. 144)

 

            Diese Herren betreiben nicht nur erfolgreich ihre Geschäfte, sondern beherrschen auch die Porträts, auf denen die Ehefrauen durchwegs eine untergeordnete Rolle spielen. Dabei treten die hierarchischen Verhältnisse ebenso deutlich zu Tage wie auf einer Postkarte von 1917, die fünf Kriegsteilnehmer in einem Stellunggraben auftreten lässt: Während die Mannschaftsgrade neugierig die Manipulation des Fotografen betrachten, stützt sich der vorne stehende Offizier auf einen Stock und blickt mit leicht erhobenem Kopf aus dem Bild in die Ferne. Der Weitblick des Vorgesetzten setzt sich über das momenthafte Geschehen des Bildermachens.
            Hat man die Lektüre beendet und schlägt den Band zu, fällt der Blick auf drei fotografische Wiedergaben. Und wie das erwähnte Bild auf dem Vorderdeckel stehen auch diese Illustrationen symptomatisch für den Inhalt. Zu sehen sind ein lässig posierender junger Mann auf Urlaub in Karlsbad, zwei Arbeiter an einer Werkbank sowie eine Oldenburger Straßenflucht. Zwei Passantinnen sind ganz klein wiedergegeben, und die näher befindliche Person bewegt sich ebenso von der Kamera weg, wie die einzige Frau, die auf dem vorderen Einbandbild im Vordergrund zugegen ist und dem Fotografen den Rücken zuwendet. Spätestens jetzt merkt man, dass das „Gedächtnis der Stadt“ nahezu ausschließlich dem Wirken der männlichen Protagonisten, den Fabrikherren und Besitzern fotografischer Unternehmungen  zu verdanken ist. Lediglich die Frau des Regimentsfotografen kommt als Briefschreiberin ein einziges Mal mit einem kurzen Satz zu Wort (146).

 

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„Lange Straße, um 1900“, „Schlosserei der Oldenburgischen Glashütte, 1898“, „Carl Wöltje, 1907“ (Einband hinten)

 

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

Februar 2013

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© Timm Starl 2013

PDF - 235kb

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