Fotokritik |
Timm Starl
„Das Tintenfass sieht mich mit einem schwarzen Auge
und einem Glanzlicht auf der Pupille an.“
Der Mensch und seine Objekte
Fotografische Sammlung Museum Folkwang
Göttingen: Edition Folkwang/Steidl, 2012
Katalog zur Ausstellung vom 25. Februar bis 29. April 2012
27,1 x 22,5 cm, 239 (+1) S., 242 Abb. zumeist in Farbe
Gebunden, Schutzumschlag
€ 34,-
Zwei Ausrichtungen stehen zur Wahl, wenn Ausstellungen ins Auge gefasst werden: die monografische und die thematische. Während bei der Präsentation eines Künstlers jedes Werk und auch jede Bagatelle eine Facette seines Schaffens berührt, wird man bei der Behandlung eines Themas darauf achten, nur jene Motive auszuwählen, die einen ausdrücklichen Beitrag dazu leisten. Das Banale und das Beiläufige werden unberücksichtigt bleiben. Will man auf Leihgaben verzichten und sich lediglich aus dem Bestand des Hauses bedienen, muss das Thema weit gefasst sein, damit möglichst zahlreiche Varianten behandelt werden können. Ist für die Schau zudem ein Titel gefunden, unter dessen Schirm genügend Arbeiten versammelt werden können, ergeben sich erhebliche Spielräume für die Kuratoren. Im gegebenen Fall wurde mit der Überschrift ein weites Feld eröffnet, denn die gesamte Skala der Darstellungen von Zeitgenossen und Dingen stand zur Verfügung. Mit dem Untertitel sind wiederum die Grenzen des Materials aufgezeigt, auf das zugegriffen werden konnte.
Mit der umfangreichsten „Präsentation der fotografischen Werke des Museum Folkwang [...], die je gezeigt wurde“ (8 f.), und der letzten von ihr kuratierten Ausstellung hat sich Ute Eskildsen von der Fotografischen Sammlung, die sie seit 1979 geleitet hat, verabschiedet. Noch einmal konnte sie ihre Kenntnis des Bestandes nutzen und ihr Geschick im eleganten Arrangement von Bildern unter Beweis stellen. Doch ging es ihr nicht um einen Leistungsnachweis oder den Hinweis auf das Ausmaß der Sammlung, sondern um einen neuen Blick auf bekannte und weniger bekannte Exemplare. Nicht mehr das harmonische und ein erklärendes Nacheinander von Fotografien waren zu beachten, sondern die Bilder sollten auf neue Weise miteinander korrespondieren und andersgeartete Blickwinkel eröffnen. Nicht die inhaltliche Entsprechung war gefragt, sondern die vielfach gleichartige Auffassung verschiedener Bildautoren und -autorinnen von ganz differenten Gegenständen: Wenn beispielsweise Aufnahmen Menschen wie Dinge festhalten und Dinge mittels der Fotografie lebendig gemacht werden. Oder wenn erst die Gegenüberstellung von Porträt und Objektaufnahme die Bilder auf ungewohnte Art zum Sprechen bringt. Wenn also auf den inhaltlichen Überschuss, der in jeder Fotografie über die Absichten von Auftraggebern und Bildautoren hinaus enthalten ist, und auf gestalterische Komponenten, deren Absichten nicht jedes Bild ohne weiteres freigibt, abgehoben wird.
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Heinrich Kühn: Walther Kühn, vor 1906, Gummidruck, 69 x 51,1 cm (S. 38) |
Friedrich Pöhler: Kinder der Familie Metzger, Schreiner, Wilhelmsdorf, 1909/1910, 18 x 52,2 cm (S. 39) |
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Wer hätte gedacht, dass Ute Eskildsen jemals neben dem Gummidruck des piktorialistischen Fotografen Heinrich Kühn, der seinen Sohn Walther zeigt, eine simple Frontalsicht auf drei Kleinkinder stellen könnte? Doch unwillkürlich erkennt man in Kühns Porträt den Blick eines Vaters auf sein Kind und merkt in beiden Aufnahmen die Unschärfen, die einmal absichtsvoll bei der Ausarbeitung des Edeldrucks eingebracht, das andere Mal durch die Bewegung der Kinder hervorgerufen worden ist. Der eine Bildautor bemühte sein ganzes handwerkliches Vermögen, um dem künstlerischen Anliegen Ausdruck zu verleihen; dem anderen erschien es als natürlich, dass die Kinder nicht stillhielten, demgemäß wertete er den Abzug als gelungen und hob ihn auf. Zuletzt fällt noch ins Auge, dass neben dem jungen Kühn eine Spielzeugkuh platziert ist und ihre helle Haut sich mit dem Hemdsärmel auf der anderen Seite des Bildes die Waage hält. Während der Puppenwagen neben der Dreiergruppe einerseits gegen die Symmetrie im Bild steht, andererseits die abfallende Linie der Kinder mit dem Puppenkopf fortsetzt.
Doch es werden nicht nur Aufnahmen vorgeführt, in denen Dinge neben Menschen auftreten oder Ansichten von Menschen solchen von Dingen gegenübergestellt werden, sondern auch gleiche Motive in unterschiedlichen Inszenierungen und Auffassungen sind nebeneinander präsent. Nicht jede Konfrontation lässt auf die Überlegungen schließen, die dahinter gestanden haben, und manche zueinander gesetzte Ansichten stützen sich primär auf ästhetische Entsprechungen. Nicht wenige Gruppierungen jedoch benötigen einen zweiten und dritten Blick, um die besonderen Reize zu entdecken, oder sie brüskieren sofort, wie es bei Vorführung nur eines der Bilder nicht hätte geschehen können; viele Nebeneinanderstellungen überraschen und manche irritieren. Gewöhnlich sind die Beispiele in derselben zeitlichen Phase entstanden, daneben findet man so eindrückliche Paarungen wie die Spitzen, von William Henry Fox Talbot als fotogenische Zeichnung 1843 aufgezeichnet, und ein Mädchen mit Hut von Hugo Erfurth aus der Zeit um 1900 (24) oder ein Rosenstillleben von Heinrich Kühn aus dem Jahr 1896 und ein Physionotrace von 1800 (25). Die Bildfolgen in der Buchveröffentlichung sind jeweils auf eine Doppelseite abgestellt und folgen insgesamt in etwa einer chronologischen Linie. Die einzelnen Bezugnahmen in den Gegenüberstellungen wirken dermaßen schlüssig, dass man sich fragt, wie denn die Argumente in der Ausstellung dargeboten worden sind.
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Heinrich Kühn: Rosenstillleben, 1896, Gummidruck, 29,6 x 39,3 cm (S. 25) |
Anonym: Damenbildnis, um 1800, Physionotrace, 39,9 x 29,9 cm (S. 25) |
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Dem Tafelteil sind vier Essays angehängt, von denen sich zwei mit den Ambivalenzen der Darstellung beschäftigen. Peter Geimer bewegt sich im Terrain der Künste und beginnt mit einem Vortrag von Vladimir Nabokov zum Thema „Der Mensch und die Dinge“ aus dem Jahr 1928, der das schöne Zitat enthält, mit dem diese Rezension überschrieben ist. Anschließend verfolgt er einen eher holprigen Weg mit abrupten Wendungen, um schließlich bei Walter Benjamin und Roland Barthes dort anzukommen, wohin er gezielt angeschrieben hat: dem „Moment, in dem die Fotografie den Menschen selbst zu einem Ding macht.“ (207).
Bernd Stiegler findet in den 1920er Jahren eine „Trinität der Dinglichkeit“ (208), ausgehend von der marxistischen Interpretation ein Georg Lukács, nach der Menschen wie Dinge in der kapitalistischen Sphäre zu Waren werden. Wie gegen den Massencharakter der Industrieprodukte gerichtet, erfolgt in den Fotografien jener Epoche eine „Belebung der Dinge“, wobei diese jedoch „keine feste Bedeutung und auch keine feste Gestalt“ haben müssen (209). Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit führt der Autor die Leser von der „Dreigestalt der Dinge“ (208) zu „Drei Ambivalenzen der Dinglichkeit“ (209) sowie weiter zu „drei Verhaltensweisen zu den Dingen“ (211), und gerne folgt man einer solchen Strukturierung, auch wenn sie sich nicht gerade aufdrängt, doch allemal eine formidable Analyse zulässt.
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Gunnar Smoliansky: Ohne Titel, 1978, 15,3 x 10,1 cm (S. 136) |
Eugene Richards: „Dorothea, after Chemotherapy“, 1979, 32 x 48 cm (S. 137) |
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Die beiden letzten Texte haben mit dem Thema, wie es im Bildteil angelegt ist, nur am Rande zu tun, wenn Steffen Siegel die 1958 in den USA entstandene Serie „From the Bus“ von Robert Frank ausführlich interpretiert und Kathrin Peters allerlei „Dinge der Fotografie“ (221) anspricht.
Die letzte Abbildung des Tafelteils zeigt ein Still aus einem Video mit einem teilweise aufgeklappten Laptop, aufgenommen 2011 von Adrian Sauer, bei dem sich das Licht des Bildschirmschoners teilweise auf den Tasten und dem Pult spiegelt (199). Alles Mögliche ließe sich assoziieren: die Bedingtheiten von Licht und Fotografie; die Abhängigkeiten von Schrift und Bild; der fotografische Augenblick, der jede Bewegung in einen Stillstand überführt; die Ausbreitung der digitalen Welt im Bereich der Fotografie. Für mich steht der Still in gewisser Weise für das Ende all dessen, was Ute Eskildsen mit Ambition begonnen und mit Verve und Ausdauer fortgeführt hat, sowie für die vielfältigen und schönen Aussichten, die sie uns über viele Jahre eröffnet hat.
Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.
September 2012
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© Timm Starl 2012
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