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Fotokritik

Timm Starl
Fotografische Experimente als schöne Bilder

Floris Neusüss
Traumbilder
Fotografien 1958 bis 1983
Hrsg. von Fabian Knierim und Ulrich Pohlmann
Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 22. Juni bis 15. Oktober 2012
Ostfildern: Hatje Cantz, 2012
29,7 x 23,4 cm, 231 S., 188 Abb., zumeist in Duplex
Leinen, Schutzumschlag
€ 39,80

Das Buch kommt gewichtig daher: 116 Blatt aus 150 g-Papier, davon zehn Faltblätter, gebunden in schwarzes Leinen, der Einband mit geprägtem Autorennamen und Titel versehen, eingehüllt in einen vierfach gefalteten Schutzumschlag – alles zusammen wiegt gute eineinhalb Kilogramm. Zudem sind zahlreiche Fotografien abfallend wiedergegeben, als entspräche das Seitenformat dem Ausschnitt, den der Künstler gewählt hat. Und nicht zuletzt ist viel Druckfarbe und ausreichend Lack verwendet worden, so dass sich ein entsprechender Geruch bei den ersten Durchsichten entfaltet.
            Eigentlich steht das pompöse Auftreten gegen ein Werk, das sich durch Leichtigkeit auszeichnet. Bei Neusüss fliegen die fotografierten Menschen und Dinge durch die Luft, schweben an der Zimmerdecke oder als Drachen gegen den Wind, sind häufig durchscheinend, verschwinden hinter Glas, lösen sich in Spiegeln auf. Sogar wenn heftig argumentiert wird, nämlich: dies sei ein Fotogramm und keine Fotografie, hier bilde das Objekt den Maßstab, dort handle es sich um eine Verdopplung durch zweimalige Belichtung, da schlage der Schatten auf das Objekt zurück, und wenn manches als Täuschung erscheine, so müsse dies als Wirklichkeit genommen werden – sogar dann wird niemals streng der Finger erhoben, sondern der Autor weist mit leichter Hand auf die Abbilder, in denen eine Realität inszeniert ist. Und hinter der ernsten Miene, die der Autor in seinen Bildern regelmäßig aufsetzt, scheint er sich zu amüsieren: Da schaut her, es ist keine Zauberei, es ist Fotografie!
            Floris Neusüss ist 1937 in Lennep geboren, studiert Wandmalerei, Fotografie und Experimentelle Fotografie in der Werkkunstschule Wuppertal, an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie in München und an der Hochschule für bildende Künste in Berlin. 1958 entstehen erste Werkgruppen, 1960 erste Körperfotogramme. Er etabliert während der Professur an der Kunsthochschule Kassel eine Klasse für Experimentelle Fotografie und gründet und leitet das Fotoforum Kassel als Hochschulgalerie, Edition und Sammlung. Gemeinsam mit Renate Heyne erforscht er ab 1980 die Geschichte des Fotogramms im 20. Jahrhundert, und beide legen 1990 eine Publikation vor, die als Grundlagenwerk angesehen werden muss. Vor allem die eigenen Fotogramme, die der Fotokünstler seit einem halben Jahrhundert vorlegt, haben ihn bekannt gemacht.

 

Floris Neusüss: „Wurzelgesicht“, München, 1959 Floris Neusüss: „Wurzelgesicht“, München, 1959 (S. 42)

 

            Doch Neusüss kann auf ein wesentlich größeres Œuvre zurückblicken, und das vorliegende Begleitbuch zur Ausstellung umreißt das Spektrum seines Schaffens von den 1950er Jahren bis in unser Jahrhundert. Was jedoch alle Hervorbringungen verbindet, sind die Lust am Experimentieren und das spürbare Vergnügen an dieserart Arbeiten. Zunächst wird in den Fundus der Verfahren, die in den ersten 100 Jahren der Fotografie aufgekommen sind, gegriffen, und nach deren Erprobung werden neue Möglichkeiten der Anwendung ausgelotet. Die Mehrfachbelichtung erlaubt ein Überblenden zweier oder mehrerer Ansichten, das gleichzeitige Aufscheinen unterschiedlicher Realien, das Kombinieren von scharfen und unscharfen Partien, das Hervorrufen besonderer Stimmungen. Die jungen Frauen, die nicht selten etwas skeptisch in die Kamera schauen, gehen zum Teil in dem Geäst, in Stämmen und Blättern unter, als würden sie aus einer anderen Welt auf unsere blicken. Ein melancholischer Zug zeichnet diese Bilder aus, eine Ahnung von ständigen Verlusten und die Sehnsucht nach dem nicht Greifbaren – Traumbilder eben. Gelegentlich tritt der Künstler selbst ins Bild, Frau und Mann verschmelzen ineinander, doch wird keine Nähe der Geschlechter spürbar, sondern der Eindruck erweckt, als könnten sie nicht zueinander kommen. Die Nähe, die als fotografische auftritt, vermittelt oftmals die Kälte des Mediums.

 

Floris Neusüss: „Neusüss verlässt den Schatten“, Installation, Kassel, 1976

Floris Neusüss: „Hommage à Niépce. Die Wiederholung im Medium“, Chalon-sur-Saône, 1977

Floris Neusüss: „Neusüss verlässt den Schatten“, Installation, Kassel, 1976 (S. 145) Floris Neusüss: „Hommage à Niépce. Die Wiederholung im Medium“, Chalon-sur-Saône, 1977 (S. 201)

            Auch fortan wird Neusüss immer wieder Bild-im-Bild-Inszenierungen bevorzugen. Neben dem banalen Hinweis, dass keine Fotografie dem Realen entsprechen kann, sondern es bloß in ihrer Sprache zitiert, werden auch auf subtilere Weise medienreflexive Überlegungen angestellt. Wenn Personen durch weiße Wände greifen oder aus ihnen heraustreten, kann nicht mehr ausgemacht werden, ob reale Figuren oder Fotografien abgelichtet worden sind. Das Abstrakte gewinnt Oberhand, und es wird offenbar, dass sich das Medium ohnehin niemals anders als in Abstraktionen artikulieren kann.
            Nun wird auch der anonyme Betrachter ins Spiel gebracht. Neusüss fotografiert auf der documenta V bekannte Persönlichkeiten des Kunstlebens und bringt die lebensgroßen Wiedergaben 1972 an den Wänden einer Fußgängerpassage in Kassel an. Das Publikum reagiert auf die arrogante Miene von Bazon Brock, und jemand fährt mit einem spitzen Gegenstand über sein Gesicht. Der selbstbewussten Haltung von Rebecca Horn wird begegnet, indem im Gesicht und im Schritt gleichfalls Kratzer angebracht werden. Wie auch in anderen konzeptuellen Arbeiten, werden Fotografien im Bild verformt, zerschnitten, verbrannt, ins Wasser geworfen: Die Auseinandersetzung mit dem Medium kann auch erfolgen, indem seine Produkte in einem späteren zum Verschwinden gebracht werden.
            Oder der Künstler liefert sich ihm aus und dreht ihm gleichzeitig den Rücken zu. Die körpergroßen Fotogramme sind ja keine Fotografien. Nicht nur weil kein Fotoapparat benötigt wird und sämtliche Objekte in Originalgröße wiedergegeben werden. Sondern auch weil die Gestalt, die sich abbildet, auf dem fotosensiblen Material einen Abdruck ihrer Kehrseite hinterlässt. Diese hat jedoch zum Zeitpunkt der Belichtung niemand sehen können. Wogegen in der fotografischen Aufnahme der Blick des Fotografen wie des Bildbetrachters jeweils auf jene Seite fällt, die der Kamera zugewendet ist beziehungsweise gewesen ist. Wenn Neusüss vor, neben oder hinter seinen Fotogrammen posiert und sich mit diesen ablichten lässt, erschließt sich die Differenz zumindest für diejenigen, die sich in Bildern nicht allein mit dem Augenschein begnügen, sondern auch die medialen Komponenten erkennen möchten.
            Das Besondere an den Kreationen von Floris Neusüss liegt darin, dass er zugleich das Fotografische zu ergründen sucht und das Ästhetische dabei nicht außer Acht lässt. Er bringt also auf zweifache Weise Licht in eine Angelegenheit und lässt uns dabei an seiner Freude am Bildermachen teilhaben. So folgt man mit Staunen und Vergnügen seinen Entwürfen über die langen Schaffensjahre hin und entdeckt einen phantasievollen Künstler, der neue fotografische Wege gegangen ist.

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

September 2012

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© Timm Starl 2012

PDF - 178kb

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