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Fotokritik

 

Timm Starl
Schwermütige Blicke auf eine vergangene Welt

Heiner Bastian (Hrsg.)
Fragmente zur Melancholie
Bilder aus dem ersten Jahrhundert der Fotografie
Ausstellungskatalog Museum für Fotografie der Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
Ostfildern: Hatje Cantz, 2006
30 : 23,9 cm, 160 S., jeweils 83 Abbildungen in Farbe und S/W
Gebunden, Schutzumschlag
€ 39,80

„Sammeln ist ein melancholischer Zeitvertreib. Melancholisch ist das Vorhaben, Gegenstände zusammenzutragen, die man für kostbar hält, um sie wie bei einer Vanitas in eine Darstellung der Loslösung zu verwandeln, in eine Darstellung jenes Moments der Verzweifelung, in dem man sich der Zeit und dem Raum hierauf entreißt, um Raum und Zeit einer anderen Art zu ermessen.“ Melancholisch sei zudem das Streben nach Vollständigkeit, die doch nie zu erreichen ist. So beschreibt Jean Clair den Gemütszustand des Sammlers im Katalogbuch Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst , das zur gleichnamigen Ausstellung, die in der Neuen Nationalgalerie in Berlin vom Februar bis zum Mai 2006 zu sehen war, erschienen ist. Derselbe Verlag hat auch den vorliegenden Band herausgebracht, der eine Ausstellung von Berlin (Alte Nationalgalerie, 13. Dezember 2006 – 25. Februar 2007) nach Tübingen (Kunsthalle, 31. März – 10. Juni 2007) begleitet. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten, denn was die eine Publikation an einschlägigen Werken der Kunst anführt und in klugen Betrachtungen zur Melancholie einbettet, vermag die andere hinsichtlich einer Durchdringung des Themas und der Qualität der Präsentation des Bildmaterials nicht zu erreichen.

 

Francis Frith
Francis Frith: „Pillars in the Great Hall, Karnac“,
1860 (aus dem besprochenen Band, S. 50)

 

          Was an Bildern gezeigt wird, ist bemerkenswert, woher diese kommen, wird nicht verraten. Da keine Leihgeber genannt sind und Heiner Bastian als Sammler bekannt ist, kann angenommen werden, dass die Abzüge und Negative aus seinem Fundus stammen. Aber auch Wilfried Wiegand, der den einleitenden Beitrag verfasst hat, könnte aus seiner Kollektion Stücke beigesteuert haben. Von beiden weiß man ihr Faible für das 19. Jahrhundert, insbesondere für die Arbeiten auf Papier aus der Frühzeit der Fotografie, und in den Texten lassen sie ihrer Begeisterung freien Lauf. Wiegand macht sich Gedanken zur Farbigkeit von Salz- und Albuminpapieren, entdeckt im Braun trotz „aller fototechnischer Argumente [...] eine ästhetische Konvention“ und meint, dass der „Braunton [...] das Foto teilhaben [ließ] an der Sphäre des Musealen“ (7). Dass dies damals schon so gesehen worden ist, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, und ein entsprechender Nachweis wird leider nicht geliefert. Die angedeutete Differenz der Hervorbringungen des 19. Jahrhunderts mit ihren vom Gelblichen bis ins Rötliche gehenden Brauntönen gegenüber dem „Schwarzweiß der Moderne“ (7) ist ein interessantes Moment, das eingehendere Überlegungen verdient hätte.
           Während jedoch die Vielfalt der Farbnuancen im Bildteil nachvollzogen werden kann, beschreibt Wiegand in der Folge vornehmlich die Beschaffenheit von Bildträgern, die jedoch in der gedruckten Wiedergabe nicht auszumachen ist. Denn es lässt sich nicht erkennen, dass „die sensiblen Substanzen, die das fotografische Bild erzeugen, [...] bei der Kalotypie anders“ liegen als beim Albuminverfahren, nämlich nicht „‘auf' dem Papier, sondern ‘im' Papier selbst“ (8). Auch die Formatfrage wird angeschnitten und die Bedeutung des Kontaktabzuges – im 19. Jahrhundert die übliche Form der Reproduktion vom Negativ– hervorgehoben, blieben doch alle Details in gleicher Schärfe erhalten. Allerdings verlangen die Maße der meisten Vorlagen nach einer verkleinerten Wiedergabe auf den Buchseiten.
          Was die Erläuterungen zur Materialität der Negative und Positive betrifft, bilden die Ausführungen Wiegands eine wertvolle Ergänzung, vor allem für jene, die bislang keinen oder wenig Umgang mit Originalen aus jener Zeit gehabt haben. Wogegen die Elogen des Autors auf die bekannten Figuren wenig zum Verständnis der vorgestellten Werke beitragen. Die Seestücke von Gustave Le Gray aus den Jahren 1856/58, bei denen Aufnahmen des Himmels und des Meeres kombiniert worden sind, als „vermutlich die raffiniertesten, die jemals angefertigt wurden“, zu klassifizieren, sagt bestenfalls etwas zu den technischen Fertigkeiten, aber nichts zur eindrucksvollen kompositorischen Leistung. Ihn wegen dieser Bilder zum „Man Ray des 19. Jahrhunderts, der im Verborgenen seine subversive Modernität praktiziert“ (10) zu erklären, bedeutet nicht mehr als ein Jonglieren mit prominenten Namen. Denn Fotomontagen sind per se weder subversiv noch modern – sie hat es zu allen Zeiten fotografischer Produktion gegeben. Und umstürzlerisch sind Naturstudien noch nicht, nur weil sie ihre Machart geschickt verbergen.

 

Gustave Le Gray
Gustave Le Gray: „Vapeur“, 1856 (aus dem besprochenen Band, S. 45)

 

         Während der eine zum Schwärmen neigt, erfasst den anderen geradezu ein Schwindel. Bastian gibt sich einem Wirbel der Ausdrücke und Gefühle hin, sucht andauernd nach weiteren Begriffen, mit denen sich seine Befindlichkeit als Sammler und Betrachter von Bildern darstellen ließe. Keine Metapher wird ausgelassen, die Fotografie wird zu allem, was möglich ist: „Moment des endgültigen Abschieds und nie Erinnerung“ (14), „eine Fügung und das Gegenteil von dem, was verströmt, sich öffnet, vorgibt, fließend zu sein wie die Musik“, „ein Chamäleon, durch und durch korrelativ, objektiv und subjektiv zugleich“ (15). Die kapriziösen Formulierungen haben weniger mit Fotografie zu tun, als sie ihren egomanischen Verfasser charakterisieren. Dazu passt, dass man in dem mäandernden Text allen möglichen Berühmtheiten mit Zitatfetzen oder beiläufigen Erwähnungen begegnet, von Lévi-Strauss bis Roland Barthes, von Rilke bis Garcia Lorca.
          Es ist kaum verständlich, weshalb in den Ausführungen so wenig zu den großartigen Bildentwürfen gesagt wird, die im Anschluss zu besichtigen sind. Leider hat man manchen von ihnen allergrößte Gewalt angetan, indem die Abbildungen über den Bund gelegt wurden. Dann kann passieren, dass eine Kraterlandschaft nicht nur durch den Knick in zwei Teilen dargeboten wird, sondern der sichtbare Bindfaden diese Trennung noch verstärkt (92/93). Auch die gelegentlich bis an die Seitenränder abfallende Wiedergabe stört eine den Bildinhalten angemessene gleichmäßige Lektüre und entspricht zudem nicht der seinerzeitigen Präsentation, bei der die Abzüge immer auf einen Karton kaschiert und auf diese Weise umrahmt worden sind. Es ist seltsam, dass der Verlag einerseits in einen guten Druck investiert, andererseits diese Anstrengung durch grafisch wenig ansprechende Lösungen teilweise zunichte macht.
         Die meisten Fotografen sind bekannte Größen, die Aufnahmen entstanden zum Gutteil in den 1850er und 60er Jahren, zwei im folgenden Jahrzehnt, je eine 1843 und 1896. Weshalb die Ansicht eines Stiegenaufgangs von Frederick H. Evans vom Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen worden ist, verdankt sich wohl der Unschärfe. Denn ansonsten lässt sich kein wie immer gearteter Rekurs auf die Fotografie der Jahrhundertmitte erkennen, ganz im Gegenteil: Die gestalterischen Elemente weisen eher in das folgende Säkulum, und unscharfe Kreationen hat es in allen Phasen fotografischer Produktion gegeben. An Motiven überwiegen Gebäudeaufnahmen und Landschaften, die wenigen dazwischen platzierten Bilder von Skulpturen, Tieren, Gemälden, Pflanzen und Schiffen verschaffen der Folge eine lebendige Note und künden von der Vorliebe des Herausgebers für Bilder ohne Menschen beziehungsweise deren Präsenz als nicht identifizierbare ephemere Gestalten. Lediglich das Frontispiz zeigt ein Porträt: „Annie Rogers Kneeling Beside a Chair“ von Lewis Carroll aus dem Jahr 1863. Das Bildnis leitet wohl deshalb den Band ein, weil das junge Mädchen den Kopf seitlich auf die Hände legt, mit denen sie die Sessellehne umfängt – es ist die Pose der Melancholie.

 

Lucien De Clercq
Lucien De Clercq: „Baalbeck [Héliopolis]. Vue d'ensemble des ruines. Syrie“,
1859 (aus dem besprochenen Band, S. 123)

 

           Doch ein aufgestützter Kopf mag auch von Müdigkeit, von sentimentaler Anwandlung oder von Versunkenheit sprechen. Insofern enthält die Aufnahme lediglich eine Andeutung, die man so oder so, eben auch als melancholische Haltung verstehen kann. Und dieserart Zeichen lassen sich in all den Bildern des Bandes finden: die Unverständlichkeit von Hieroglyphen auf der Tempelmauer; der Verfall von antiken Bauwerken; das Dunkel eines Buschwerks, das den Blick zurückweist; ein Tempel in Segosta, der in der Landschaft zu versinken droht; das Wandgemälde, das während der Pariser Commune durch Brand zerstört worden ist. Und auch wenn der Titel in den Texten nicht eingelöst wird und der Untertitel die Auswahl nur unscharf umreißt – die „Fragmente zur Melancholie“ aufzuspüren, obliegt jedem, der die schönen Aufnahmen auf diesen Aspekt hin betrachtet. Denn die Melancholie verbirgt sich nicht in den Bildern, sondern im Blick auf eine Welt, von der man weiß, dass sie lediglich ein Bild ist.

Februar 2007

Sämtliche Vorlagen zu den abgebildeten Fotografien stammen aus der Sammlung Céline und Heiner Bastian, worauf mich Ludger Derenthal freundlicherweise aufmerksam gemacht hat.

März 2007

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© Timm Starl 2007

PDF - 367kb

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