67

  Profil
  Ausstellungen
  Bücher
  Themenhefte
  Texte
  Bibliografien
  Projekte
  Fotokritik
  Links
mail
   

 

 

Fotokritik

 

Timm Starl
Reine Präsenz und zufällige Form

Helmut Völter
Wolkenstudien / Cloud Studies / Études des Nuages
Buch zur Ausstellung „Wolkenstudien – Der wissenschaftliche Blick in den Himmel“
im Fotomuseum Winterthur vom 26.11.2011 bis 12.2.2012
Deutsch, Englisch, Französisch
Leipzig: Spector Books, 2011
27,5 x 20,5 cm, 272 S., 173 Abb. in Farbe
Gebunden
CHF 49,-, €38,-

Zwei Jahre nach seinem Erscheinen wird die „Annahme des ‘internationalen Wolken-Atlas‘ in allen Ländern“ als „äusserst glückliches Ereignis“ gewertet. Doch Jean Vincent will damit nicht sagen, „dass die für den Atlas angenommene Einteilung eine vollkommene und endgültige sei“, vielmehr bilde sie „nur einen Entwurf, welcher die hauptsächlichen Typen enthält.“ Der belgische Meteorologe sollte recht behalten und er weiß auch, wie vorzugehen sei: „Es giebt nur einen Weg, die Lücke des Atlas auszufüllen, d.i. das Photographieren der Wolkenbildungen, welche bis jetzt nicht darin aufgeführt sind, sowie der zahlreichen Abarten.“ Tatsächlich wird in den folgenden Jahrzehnten die Klassifizierung verfeinert werden. Dabei waren es immer neue Ansätze fotografischer Erkundung, die zur erweiterten Einschätzung der Wolkenformationen und ihrer Bildung führten.

 

Albert Riggenbach: Cumulus, Säntis, 1890 ,,
Albert Riggenbach: Cumulus, Säntis, 1890 (S. 8) Ralph Abercromby: Strato-Cumulus, Tenerife/Madeira, 30.10.1887, 16:42 Uhr (S. 26)

 

            Den Anfang hatten ein Schweizer Wissenschaftler und ein schottischer Amateurmeteorologe gemacht, nachdem in den 1880er Jahren Apparaturen, Materialien und Chemikalien auf den Markt gekommen waren, die zuließen, die sich ständig verändernden Formen vorbeiziehender Wolken deutlich festzuhalten. Albert Riggenbach, Astronom, Meteorologe und Geophysiker erkannte, dass ausschließlich die Fotografie Unterlagen bereitzustellen vermochte, die Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Beobachtungen erlaubten und damit wissenschaftliches Arbeiten erst möglich machten. Weil auf den Bergen sich stärkere Kontraste zwischen dem Weiß der Wolken und dem Blau des Himmels abzeichneten, fotografierte er in den 1880er und 90er Jahren von hoch gelegenen Plätzen aus. Ralph Abercromby wollte nachweisen, dass die Grundformen der Wolken sich weltweit nicht unterscheiden, und unternahm zwischen 1885 und 1887 zwei Weltreisen, um seine Annahmen fotografisch zu verifizieren. Die Erkenntnisse der beiden Wolkenforscher bilden in der Folge die wesentliche Grundlage für den erwähnten ersten internationalen Wolkenatlas von 1896. 

 

Quénisset/Schereschewski/Wehrlé: Gewittersystem, Juvisy, 20.3.1905 Masanao Abe: Mount/Mont Fuji, 9.9.1933
Quénisset/Schereschewski/Wehrlé: Gewittersystem, Juvisy, 20.3.1905, 10::00 Uhr (S.98) Masanao Abe: Mount/Mont Fuji, 9.9.1933, 14:55 Uhr (S. 160)

            Der Erste Weltkrieg und die Erfordernisse der Militärpiloten führen dazu, dass man Wolken zunehmend vom Flugzeug aus zu fotografieren begann. In den 1920er Jahren erweitert sich die Sicht auf Wolkensysteme und Wolkenbewegungen, denen fotografisch und filmisch nachgegangen wird. Ein Jahrzehnt später werden stereofotogrammetrische Vermessungen vorgenommen. 1960 liefern zwei Kameras aus einem mit einer Rakete auf 725 km Höhe transportierten Satelliten nach 78 Tagen etwa 23.000 Wolkenaufnahmen aus dem Weltall. Nun können auch Formationen erfasst werden, die zu groß sind, um von der Erde aus überblickt zu werden. All diese und weitere Ansichten münden in verschiedene Ausgaben von Wolkenatlanten. Deren Geschichte von 1879 bis 1994 geht Helmut Völter nach. Dabei formuliert er präzis und fasst sich kurz. Davor und über den Band verteilt sind die Fortschritte mit ganzseitig wiedergegebenen Abbildungen anschaulich gemacht.
            Sowohl der unprätentiöse sprachliche Duktus, der jedoch keine Aufgabe des wissenschaftlichen Anspruchs bedeutet, als auch eine Gestaltung, die für die beiden Textbeiträge und den dokumentarischen Teil unterschiedliche Spalteneinteilungen und wechselnde Typografie einsetzt, gewährleisten eine angenehme Lektüre. Nicht zuletzt erweitert der in der Mitte des Bandes platzierte Essay von Marcel Beyer den Horizont insofern, als er gewissermaßen von den Wolken auf den Autor zurückblicken lässt. Diesen könnte man als einen Wolkensüchtigen bezeichnen, den beim Studium der historischen Schriften und Bilder eine Art Höhenrausch erfasst. Beyer sieht in der einerseits „überbordende[n] Systematik“ (118) der Wolkenforscher die positivistische Suche von Naturwissenschaftlern nach Gewissheiten und im gleichzeitigen Hang zur Metaphernbildung in den Beschreibungen die Unsicherheiten im Umgang mit dem natürlichen Phänomen. Dem nämlichen Zwiespalt waren die Künstler ausgesetzt, als die Fotografie noch keine Momentaufnahmen liefern konnte. Maler und Zeichner, Schriftsteller und Essayisten suchten Szenen festzuhalten, die sich längst verändert hatten, als ihre Aufzeichnungen beendet waren. Gleichwohl notierte manch einer – wie der englische Maler John Constable 1821 und 1822 – zu seinen diesbezüglichen Werken Tag und Stunde, wie um mit einer Zeitangabe jene Genauigkeit ins Spiel zu bringen, die der bildlichen Darstellung nicht möglich war.
            Dem Band hintangestellt ist neben einer ausführlichen Bibliografie ein Abschnitt „Dokumente“ mit Auszügen aus den klassischen Schriften des 19. Jahrhunderts. Die Sammlung reicht von Luke Howard (1803) und Goethe (1820/22) über John Ruskin (1860), William Clement Ley (1876) und Gaston Tissandier (1884) bis zu einem „Vergleich der Wolkennomenklaturen der Spezialisten“ von Henry Helm Clayton (1896). Die Texte vermitteln neben ihren Ansichten und Inhalten die ständigen Versuche, mit Sprache einem Gegenstand gerecht zu werden, also mit Linearität eine Erscheinung einzufangen, zu deren Hauptmerkmalen ihre Flüchtigkeit zählt. Alle erwähnten Aspekte zusammengenommen, bietet die vorliegende Veröffentlichung eine ebenso vergnügliche Lektüre, wie sie beispielhaft vorführt, dass wissenschaftshistorische Abhandlungen durchaus anregend vorgetragen und damit Themen für ein breites Publikum aufgetan werden können.

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

Juli 2012

................................................................................................................................................................

© Timm Starl 2012

PDF - 151kb

nach oben

zurück
kombinationen.at Impressum