Timm Starl
Unschärfe und Abstraktion
Stefan Heyne
Speak to Me
Ostfildern: Hatje Cantz, 2011
38 x 30,4 cm, 71 S., 68 Abb. in Farbe
Gebunden, Schutzumschlag
€ 39,80
Unschärfe gehört zu den besonderen Fähigkeiten der Fotografie, der Welt ein Bild zu verleihen. Nicht umsonst lässt sie sich in allen Phasen der Gewinnung eines fotografischen Aufzeichnung hervorrufen: vor und bei der Aufnahme, während der Entwicklung und Ausarbeitung. Richtet man bei Nebel oder Schneetreiben die Kamera auf ein Motiv oder befindet sich dieses hinter einer angelaufenen Glasscheibe, werden nicht alle Details mit gleicher Deutlichkeit hervortreten. Bei starker Überbelichtung verwischen sich die Konturen, oder sie verlieren sich bei ebensolcher Unterbelichtung im Dunkel. Das Fehlen einer Linse bei der Lochkamera führt gleichermaßen zu Unschärfen wie bestimmte Einstellungen des Objektivs und der Blende. Wird der Fotoapparat während einer langen Belichtungszeit bewegt oder bewegen sich die Personen und Gegenstände vor der Kamera, so tritt derselbe Effekt ein. Die Körnigkeit der fotosensiblen Schicht auf Platte oder Film, die Beschaffenheit des Fotopapiers beeinflussen ebenfalls die Schärfe der Wiedergabe. Bei Vergrößerung des Negativs wie bei seiner Überarbeitung können ebenso unscharfe Partien eingebracht werden wie bei Retusche und Kolorierung der Abzüge. All diese und weitere Handhabungen, die seit der Erfindung des Mediums aufgekommen sind, lässt die digitale Fotografie nur partiell zu, was zu einer erheblichen Reduktion der Darstellungsweisen führt. Denn jede Unschärfe hat ihre Eigenart und führt zu andersartigen Bildern.
Beispielsweise verändert sich je nach Hervorrufung der Unschärfe der Abstraktionsgrad. Wobei nicht betont werden muss, dass wir ohnehin keine anderen Bilder als abstrakte kennen. Das Abstrakte ist ja ein konstitutives Element jeder Kunst wie jeder Fotografie, die den Dingen ihre tatsächlichen Maße und Formen nimmt, den Räumen eine Dimension stiehlt und der Zeit ihr Kontinuum verweigert. Zudem sind alle bildlichen Erscheinungen, so man die originale Vorlage nicht kennt, nur mittels Bildlegende zu identifizieren. Aber lassen wir einmal die Abstände zwischen realem Objekt und bildlicher Wiedergabe außeracht, wie es Stefan Heyne fordert: „Abstrakt, was soll das eigentlich sein?“ fragt er in einem Interview, das dem Tafelteil der vorliegenden Veröffentlichung angehängt ist. Eine Antwort hält er nicht für besonders wichtig, denn wenn er „Kunst mache“, seien „Alltagskategorien“ wie der Bezug zwischen real und abstrakt unerheblich. Entsprechend verweigern seine Bildtitel jegliche Auskunft und bestehen lediglich aus Zahlen, die manchmal mit einem Präfix aus Buchstaben ergänzt sind. Wenn für ihn aber – wie er sagt – lediglich „die Realität der Kunst“ von Bedeutung sei (65), dann sind die Gegebenheiten vor der Kamera nicht von Relevanz und es geht nur um Fläche, Linie, Helligkeit, Farbe, Format und – wenn man will und an die Reproduktion im Druckwerk denkt – den Raster. Es gibt keinen Unterschied zwischen Bildgegenstand und Bild, sondern dieses fungiert zugleich als sein Objekt. Oder, wie es Hubertus von Amelunxen im einleitenden Text ausdrückt: “[I]n äußerster Konkretion zeigen die Bilder ihren eigenen Bezug [...]“ (5).
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