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Fotokritik

 

Timm Starl
„jungenhaft“ und „altertümlich“

Friedrich Seidenstücker
Von Nilpferden und anderen Menschen / Of Hippos and Other Humans
Fotografien / Photographs 1925­–1958
Ausstellungskatalog Berlinische Galerie
Ostfildern: Hatje Cantz, 2011
27,7 x 23,3 cm, 327 (+1) S., 296 Abb. in Farbe
Gebunden
€ 39,80 (D), 40,90 (A), CHF 53,90

Es gibt nicht allzu viele Fotografen, deren Person und Werk mit dermaßen unterschiedlichen Attributen bedacht worden ist wie Friedrich Seidenstücker. Er sei ein „Kauz“ gewesen (9, 15), eine „romantische Natur“ (21), ein „feinsinniger Beobachter“ (120), der „sozialkritische Bilder“ (19) hervorgebracht habe, ohne dass eine „kritische Haltung“ zu erkennen“ sei (162); er habe über einen „jungenhaften Blick“ (85), einen „Bildhauerblick“ (22), einen „erotischen“ (13) und einen „schrägen“ Blick (24) verfügt; „seine Kompositionsweise“ sei „altertümlich“ gewesen (16); in der „pittoresken Ästhetik“ der Landschaftsaufnahmen erkennt der eine Kommentator das Anlehnen an die „traditionelle Landschaftsmalerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ (21), eine andere Autorin erinnern seine Trümmerfotografien der 1940er Jahre „an antikisierende Ruinenarrangements in Landschaftsgemälden des 18. Jahrhunderts“ (220). Uneinig sind sich zwei Autoren bei der Einschätzung der „Straßenfotografie“, die einmal als „junges fotografisches Sujet“ (9) gesehen wird, für das „erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts [...] die technischen Voraussetzungen“ gegeben gewesen seien (16); während von anderer Seite gemeint wird, diese lasse sich „bis auf die ersten Anfänge des Mediums zurückverfolgen“ (161).
            Die Differenzen in den Zuweisungen mag man auf das vielfältige Œuvre des Fotografen zurückführen, der sich mit derselben Neugier dem urbanen Alltag auf der Straße, den Tieren im Zoo und in den Schlachthöfen,  den jungen Frauen – ob in der Öffentlichkeit oder als Aktmodelle in einer Wohnung – und dem zerbombten Berlin genähert hat. Zudem ist nicht jedem gegeben, die gängigen Barrieren seines Faches und die Grenzen des Themas, das er behandelt, zu überschreiten, was nicht zuletzt ein erweitertes Vokabular erfordert und zu manch anderen Einsichten führt. Es ist letztlich die unterschiedliche Distanz, mit der die Autorinnen und Autoren auf ihren Gegenstand schauen und damit erst den Kontext ermessen können, in dem der Bildautor gewirkt hat und seine Produkte entstanden sind.

 

Ohne Titel, 1933 Horch 12, um 1932Horch 12, um 1932/33/33 (S. 81)
Ohne Titel, 1933 (S. 47) Horch 12, um 1932/33 (S. 81)

 

           Den weitesten Horizont eröffnet Wolfgang Brückle, der „Seidenstückers Berliner Straßenleben“ (160) nachgeht und die fotohistorischen Belange ebenso berücksichtigt wie die Präsenz des Themas in der Publizistik der 1920er und 30er Jahre und die spätere Rezeption der diesbezüglichen Bildwelt des Fotografen. Dieser spürte im großstädtischen Treiben ebenso das Geläufige wie das Eigenartige auf, sah jene, die sich ausruhten, und solche, die es eilig hatten, elegante Frauen und schmutzige Gleisarbeiter. Florian Ebner erkennt in den 7.000 erhaltenen Aufnahmen von und mit Tieren nicht nur die „Schaulust“ von Zoobesuchern, der fotografisch entsprochen wird, sondern auch die zugrundeliegende Entfremdung, die den städtischen Zeitgenossen zu „illusorischen Projektionen [...] auf die Welt der Tiere“ (121) führt. „Seidenstückers Witz“ (82) ortet Christoph Ribbat unter anderem als Folge der Herausstellung des Körperlichen in einer Phase der Entindividualisierung in den Massenveranstaltungen der Zwischenkriegszeit. Ulrike Griebner hat einen Blick ins Negativarchiv geworfen und dabei feststellen können, wie der Fotograf je nach Bedarf manche Aufnahmen beschnitten und für eine Serie gegebenenfalls verschiedene Kameras verwendet hat. In Bildbeispielen wird anschaulich gemacht, wie aus einem Querformat ein Hochformat extrahiert wurde und der Fotograf für eine Presseveröffentlichung quadratische Bilder hergestellt hat.

 

Ohne Titel (Walrosse), 1932 Vor den Äffchen, 1926
Ohne Titel (Walrosse), 1932 (S. 158) Vor den Äffchen, 1926 (S. 125)

 

            Die übrigen Beiträge streifen ihre Themen zumeist nur an der Oberfläche und finden wenig einleuchtende Erklärungen für das Schaffen des Protagonisten. Beispielsweise verabsäumt Sabine Schnakenberg, die farbigen Aktstudien der 1940er und 50er Jahre zum fotografischen Kitsch jener Zeit oder zu den nicht unähnlichen Darstellungen des Wiener Ateliers Manassé in den 1920er und 30er Jahren ins Verhältnis zu setzen. Sie meint, die teils peinlich wirkenden Inszenierungen als Ausdruck eines selbstbewussten weiblichen Modells interpretieren zu müssen.
            Friedrich Seidenstücker, 1882 im westfälischen Unna geboren, absolviert von 1901 bis 1923 mit Unterbrechungen ein Ingenieursstudium und zusätzlich ein Studium der Bildhauerei, von der er anschließend nicht leben kann und 1928 den Beruf wechselt; 1930 wird er freier Journalist bei Ullstein und veröffentlicht von 1932 bis 1934 Bilder in 70 Publikationen; ab 1938 verwendet Seidenstücker auch farbiges Diamaterial, erhält während des Zweiten Weltkrieges nur wenige Aufträge und kann auch danach nicht an frühere Erfolge als Pressefotograf anschließen; 1962 erlebt er seine erste Ausstellung, 1966 stirbt er in Berlin.

 

Berlin, 1947 Ohne Titel, 1941/42
Berlin, 1947 (S. 237) Ohne Titel, 1941/42 (S. 211)

 

            Der Anhang versammelt neben einer gut vorgetragenen Biografie von Karin Lelonek und Antje Schunke kurze Texte diverser Verfasser zum Auffinden des Nachlasses ab 1971 und dessen Aufarbeitung in der Bildagentur BPK (früher: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz) und in der Stiftung Stadtmuseum Berlin. Der ausführliche bibliografische Teil wäre noch um den Aufsatz von Sabine Kübler zu ergänzen, der 1988 in der Zeitschrift Fotogeschichte erschienen ist. Bedauerlich finde ich, dass von den zahlreichen Aufnahmen von Straßenarbeitern und Gerüstbauern, Handwerkern und Putzfrauen, Bahnhofspersonal und Markthändlern sowie weiteren Werktätigen in dem vorliegenden Band nur acht Beispiele vorgestellt werden. Diese Aufnahmen gehören nämlich zu den aufmerksamsten Berufsdarstellungen der 1920er und 30er Jahre in Deutschland und hätten einen eigenen Beitrag verdient. So bleibt nur der Rückgriff auf einen kleinen Bildband, der 1980 in der Reihe „Die bibliophilen Taschenbücher“ herausgegeben worden ist und rund 150 Exemplare dieses Genres aus der Kamera Seidenstückers abbildet.
            Insgesamt zeichnet die Publikation ein konturenreiches Bild dieses Fotografen, zumal einige Aspekte in seinem Schaffen erstmals aufgegriffen und andere in neuem Licht gesehen werden. Stellvertretend sei das über eine Pfütze springende Paar angeführt (176), während in den früheren Veröffentlichungen immer nur die jungen Berlinerinnen bei ihren Sprüngen präsentiert wurden. Und es waren wohl diese Aufnahmen, die Ulrich Domröse dazu verleitet haben, Seidenstücker an zwei Stellen als „Kauz“ zu bezeichnen. Er wird auf die Eintragung im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm gestoßen sein, wo es heißt: „die kauzen sind seltsame kauzen, haben ihre sonderliche lust an dem tanzen und springen der menschen, sehen denselben so fleiszig zu, dasz sie darüber gefangen werden.“

 

Am Bahnhof Zoo, 1925 (S. 175) Am Zoo, um 1925 (S. 176) Pfützenspringerin, um 1930 (S. 176)

       

Erwähnte Literatur
Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Bearbeitet von Dr. Rudolf Hildebrand, Leipzig: S. Hirzel, 1873, Sp. 368 (nach Joh. Colerus, Hausbuch, 1640)
Sabine Kübler, „Paul Wolff – Frankfurt, Friedrich Seidenstücker – Berlin. Zwei Zeitgenossen fotografieren die 30er Jahre“, in: Fotogeschichte, Heft 28, 8. Jg., 1988, S. 43-48
Friedrich Seidenstücker, Von Weimar bis zum Ende. Fotografien aus bewegter Zeit, hrsg. von Ann und Jürgen Wilde, Dortmund: Harenberg, 1980 (Die bibliophilen Taschenbücher, 181)

Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den Abbildungen um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

Dezember 2011

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© Timm Starl 2011

PDF - 356kb

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