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            | Fotokritik |  
            |   Timm Starl„Der heutige Tag ist verloren. Ich habe nichts geschrieben“
 Alexander Rodtschenko
 Schwarz und Weiß
 Schriften zur Photographie
 Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Schamma Schahadat
 und Bernd Stiegler
 (photogramme, hrsg. von Bernd Stiegler)
 München: Wilhelm Fink, 2011
 23,3 x 15,6 cm, 451 S., 80 SW-Abb.
 Broschiert
 € 49,90
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                  | Alexander Rodtschenko: Am Hydranten, 1932 (aus: 
                    Rodtschenko, Fotograf. 1891–1956. Bilder aus Moskauer 
                    Familienbesitz, Ausstellungskatalog Kunstsammlung 
                    der Universität Göttingen, Göttingen: 
                    Arkana, 1989, S. 91) | Alexander Rodtschenko: Zwangsarbeiter und Werkskapelle, 
                    aus der Serie „Bau des Weißmeerkanals“, 
                    1933 (aus: Rodtschenko, Fotograf. 1891–1956. Bilder 
                    aus Moskauer Familienbesitz, Ausstellungskatalog 
                    Kunstsammlung der Universität Göttingen, Göttingen: 
                    Arkana, 1989, S. 97) |  |  
            |   Verortet man Alexander Rodtschenko (1891–1956) im Kreis der Vertreter des Neuen Sehens 
                der 1920er und 30er Jahre, sieht ihn an der Spitze der sowjetischen Jünger dieser Richtung 
                und stellt ihn im internationalen Kontext neben László Moholy-Nagy und Albert Renger- 
                Patzsch, so berühren diese Klassifikationen nur die ästhetischen Dimensionen seines Schaffens. 
                Wohl hat er wie viele andere neue Perspektiven bevorzugt, gerne extreme Steil- und 
                Nahsichten gewählt, Objekte schräg ins Bild gesetzt, Hell-/Dunkelkontraste betont, mit Doppelbelichtungen 
                gearbeitet, Retusche und andere Überarbeitungen abgelehnt. Und wie die 
                meisten richtete er seine Kamera mit Vorliebe auf die großstädtischen Straßen und Gebäude, auf Alltagsgegenstände und Industrieprodukte. Wie Raoul Hausmann hatte er über die Fotomontage 
                den Weg zu fotografischer Artikulation mit Einzelbild und Serie gefunden; wie Otto 
                Umbehr (Umbo) setzte er die Gesichter der Freunde und Geliebten häufig formatfüllend ins 
                Bild und publizierte gleichfalls Reportagen; wie Moholy-Nagy äußerte er sich regelmäßig zu 
                vielfältigen Aspekten des Mediums.   |  
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                | Alexander Rodchenko: Haus an der Mjasnicka- 
                  Straße 1925 (aus: Hubertus Gassner, Rodcenko 
                  Fotografien, München: Schirmer-Mosel, 1982, 
                  Taf. 8) | Alexander Rodchenko: Pionier mit Horn, 1930 (aus: Hubertus 
                  Gassner, Rodcenko Fotografien, München: Schirmer-Mosel, 1982, Taf. 112) |  |  
            |              Doch seine Überlegungen gehen – im Tagebuch wie in den veröffentlichten Texten – 
                über die alleinige Auseinandersetzung mit fotografischen Fragen hinaus. Sie sprechen vom 
                Leben, von der Sicht auf das Alltägliche, von anderen Einstellungen. Dabei steht die Einstellung 
                gegenüber den Menschen und der Gesellschaft an erster Stelle, die Handhabung der Apparatur 
                ist nachrangig. Rodtschenko verstand seine künstlerische Tätigkeit als ein aufklärerisches  
                und erzieherisches Unterfangen. „Ihm ging es“, wie die Herausgeber feststellen, „nicht 
                nur um eine radikale Abkehr von tradierten Wahrnehmungsformen und Verhaltensweisen, 
                sondern um die künstlerische und zugleich alltagsfähige Erschließung einer neuen Wirklichkeit.“ 
                (418 f.) In den Worten des Protagonisten hieß dies 1928: „Das Objektiv des Photoapparats 
                ist die Pupille des gebildeten Menschen in der sozialistischen Gesellschaft.“ (265) Und 
                weil Rodtschenko ein Schreibwütiger war – “[...] muß man jeden Tag schreiben“ (126), bekennt er 1934 und 1939: „Der heutige Tag ist verloren. Ich habe nichts geschrieben“ (47) –, 
                lässt sich nachvollziehen, wie er seine sozialen Ansprüche umzusetzen suchte. Es sind die 
                Absichten und Zielsetzungen, die ihn von seinen berühmten und weniger bekannten Kollegen 
                im Westen unterscheiden, und gelegentlich offenbaren sich die Differenzen deutlich in einem 
                Bild.   |  
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                | ![Umbo [d.i. Otto Umbehr]: „Mysterium der Straße“, 1928](pix/73-5.jpg) |  |  
                | Umbo [d.i. Otto Umbehr]: „Mysterium der Straße“, 1928 
                  (aus: Umbo. Vom Bauhaus zum Bildjournalismus, Ausstellungskatalog 
                  Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, 
                  Düsseldorf 1995, Taf. 25) | Alexander Rodchenko: Sammlung zur Demonstration 
                  auf dem Hinterhhof der VChUTEMAS, 
                  1928 (aus: Hubertus Gassner, Rodcenko Fotografien, 
                  München: Schirmer-Mosel, 1982, Taf. 
                  33) |  |  
            |               In der Momentaufnahme von Otto Umbehr (Umbo) aus dem Jahr 1928 treten die Frau 
                mit Kind und ein Straßenkehrer auf, ohne sich zu beachten. Der alltägliche Vorgang erhält 
                durch die langen dunklen Schatten eine besondere Atmosphäre, die über die Titelgebung als 
                geheimnisvoll charakterisiert wird. Die Szene ist im Gegenwärtigen gefangen, das grafische 
                Element dominiert die Situation und liefert den Sinn. Die Aufnahme von Rodtschenko aus 
                demselben Jahr und der nämlichen Sicht von oben ist gleichfalls ein Schnappschuss. Die 
                Bildunterschrift identifiziert die Akteure auf der Straße als Demonstranten, nimmt aber zwei 
                weitere Personen ins Bild. Die Frau auf dem oberen Balkon beobachtet die Vorbereitungen 
                unter ihr, begleitet also mit ihren Blicken die politische Aktion. Während eine Frau auf dem 
                Balkon darunter sich der Hausarbeit widmet und keine Notiz von den Vorgängen nimmt. Die eine registriert das aktuelle Geschehen, die andere ist gefangen in der traditionellen Rolle ihres 
                Geschlechts. Damit verschränken sich so offenkundig wie subtil drei Zeitebenen: die bevorstehende 
                Veranstaltung, die für Änderungen in der Zukunft plädieren wird; der interessierte 
                Blick der Zuschauerin, die sich jedem Augenblick ausliefert; das Nachgehen einer seit jeher 
                geübten Tätigkeit.Rodtschenkos Werke waren in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland präsent, 
                unter anderem auf der bedeutenden Internationalen Ausstellung des Deutschen Werkbundes 
                „Film und Foto“ 1928 in Stuttgart. Doch bereits in dieser Zeit sieht er sich Plagiatsvorwürfen 
                in dem führenden nationalen Fachblatt Sowjetskoje Foto ausgesetzt. Diese kann er ohne Mühe 
                zurückweisen, entlarvt seine Gegner als Anhänger eines fotografischen „Analphabetentums“ 
                (207) und setzt deren Inszenierungen die Forderung nach ungestellten Aufnahmen von unterschiedlichen 
                Standpunkten aus entgegen. In der Folge wird Rodtschenko immer wieder des 
                Formalismus verdächtigt, bei dem das kompositorische Kalkül den eigentlichen bildnerischen 
                Zweck abgeben würde. Später wird er eingestehen, dass die eine oder andere Arbeit – wie der 
                „Pionier“ von 1930 – in dieser Hinsicht „diskutierbar“ und als „experimentell“ zu werten sei 
                (296).
 Doch die ständigen Angriffe machen den Künstler müde und führen dazu, dass er sich 
                ab Mitte der 1930er Jahre zunehmend der Malerei, mit der sein künstlerisches Wirken begonnen 
                hat, zuwendet. Und auch manche seiner Kreationen verraten den Verzicht auf frühere 
                gestalterische Ansprüche, ja, Rodtschenko findet plötzlich Interesse an den überkommenen 
                Verfahren der piktorialistischen Kunstfotografen: „Ich möchte mit Bromöl arbeiten, aber es 
                gibt keine Chemikalien.“ (1936, 130) Nun entstehen unscharfe Ansichten, die ihren Gegenstand 
                mehr verunklären als verdeutlichen und ihn vom Betrachter wegrücken.
 Solche Beispiele sind in den vorliegenden Band nicht aufgenommen worden, und um 
                sich eine Vorstellung vom gesamten Schaffensspektrum zu machen, sollte einer der Bildbände, 
                die in den letzten Jahrzehnten vorgelegt wurden, zur Hand genommen werden. Neben dem 
                Band Rodcenko Fotografien aus dem Jahr 1982 empfiehlt sich insbesondere der Göttinger 
                Ausstellungskatalog von 1989, zumal er die Fotografien chronologisch reiht und sich Bilder 
                neben den Schriften zum guten Teil parallel verfolgen lassen. Denn die 68 Abbildungen in der 
                vorliegenden Publikation illustrieren nur ungenügend, worüber ihr Autor in seinen schriftlichen 
                Aufzeichnungen von 1927 bis 1944 befindet. Zudem sind die Aufnahmen in der bewährten 
                schlechten Qualität wiedergegeben, die fast alle Veröffentlichungen des Fink Verlages 
                auszeichnen. Sie stehen in Opposition zu einer anerkennenswerten editorischen Leistung und den ausführlichen Anmerkungen der Herausgeber, die den Leser zu den zumeist unbekannten 
                Personen und Gegebenheiten begleiten und entsprechende Zusammenhänge herstellen.
 Erwähnte Literatur 
                Hubertus Gassner, Rodcenko Fotografien, München: Schirmer-Mosel, 1982
 Rodtschenko, Fotograf. 1891–1956. Bilder aus Moskauer Familienbesitz, Ausstellungskatalog Kunstsammlung 
                der Universität Göttingen, Göttingen: Arkana, 1989
 September 2011  ................................................................................................................................................................ 
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