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Fotokritik

 

Timm Starl
„Bilder an sich“
Gottfried Jäger
Mikrofotografie als Obsession
Das fotografische Werk von Carl Strüwe (1898–1988)
Bielefeld: Verlag für Druckgrafik Hans Gieselmann, 2011
29,8 x 21 cm, 345 S., 1.109 Abb. in SW und Farbe
Broschiert
€ 32,-

Abstrakt ist ein Eindruck, der auf ganz unterschiedliche Weise hervorgerufen werden kann. Eine abstrakte Fotografie setzt ihre Gegenstände so in Szene, dass sie nicht mehr als solche, sondern nur mehr als „Bilder an sich“ erkannt werden können. Die fotografische Wiedergabe enthält keine Strukturen oder Koordinaten, die sich auf eine geläufige Erscheinung zurückführen lassen. Dies wird erreicht, indem ein reales Objekt fotografisch eine Darstellung erfährt, wie es mit freiem Auge nicht gesehen werden kann oder die keine Ähnlichkeit mit einer erinnerten Konstruktion oder Gegebenheit aufweist. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln lassen sich abstrakte Gebilde fotografisch herstellen?
           Rückt die Kamera dermaßen nahe an ein Objekt (Makrofotografie), oder wird es stark vergrößert (Mikrofotografie) oder ein besonders kleiner Ausschnitt gewählt oder auf extrem großer Entfernung gesehen (wie bei manchen Luftbildaufnahmen), dann erscheint nicht mehr als ein grafisches Muster oder ein wirres Allerlei, das seine Herkunft nicht verrät. Mit Arrangements vor der Kamera – wie dem Einsatz von Spiegeln – können Verfremdungen auftreten, bei denen die Einzelheiten und das Ganze nicht mehr zu identifizieren sind. Wird das Auftreten von Licht, Wärme, Elektrizität oder chemische Vorgänge auf fotosensiblem Material festgehalten (Fotogramme, Chemigramme, Elektrografie), kann vom bildlichen Ergebnis nicht auf die auslösenden Faktoren geschlossen werden und zeigt dieses zugleich fremde, bislang nicht gesehene Formen. Auch ab einem gewissen Grad von Unschärfe lassen sich die abgebildeten Konstellationen nicht mehr rekognoszieren. Die Vielfalt der Möglichkeiten zur Erzeugung abstrakter Bilder offenbart, dass sich die Fotografie in besonderem Maße dazu eignet. Denn wie kein anderes Bildmedium wirkt immer ein Reales auf das fotografische Prozedere. Und zugleich geschieht die Transformierung in ein Bild bei sämtlichen Fotografien mit tels räumlicher und zeitlicher Abstraktion. Kurz gesagt und auf den einfachsten Nenner gebracht: Es existiert kein Foto, das nicht dem Realen sein Bild durch Abstraktion verschafft.

 

Carl Strüwe: „Weiß über Grau schwebend“ (Fischbein vom Wal), 1926 „Endzeit-Melancholie“, 1959
Carl Strüwe: „Weiß über Grau schwebend“ (Fischbein vom Wal), 1926, aus der Serie „Bildner Mensch“, Mikrofotografie, 53 x 40,4 cm (S. 70) „Endzeit-Melancholie“, 1959, aus der Serie „Bildner Mensch: Gestaltungen“, 23,4 x 17,5 cm, Foto-Grafik (s. 131)

 

           Der Bielefelder Carl Strüwe (1898–1992) absolvierte eine Ausbildung als Lithograf, arbeitete als Grafiker, war fotografischer Autodidakt und künstlerisch als Maler und Zeichner aktiv und beschäftigte sich zeitlebens mit der Mikrofotografie. Von Beginn an ging es ihm jedoch nicht um wissenschaftliche Anwendungen, sondern er nahm das Mikroskop für die Kunst in Anspruch, wobei nicht nur besondere Ansichten festgehalten, sondern auch Eingriffe vorgenommen wurden. Bereits das erste Produkt von 1926 verrät die Ambition: Die Aufnahme eines Knochens vom Wal ist mit „Weiß über Grau schwebend“ betitelt, also sind farbliche Differenzen angesprochen und eine räumliche Dimension eingebracht, womit auf das fotografische Bild, nicht aber auf das Objekt verwiesen wird. Zudem ging Strüwe von der üblichen runden Form des Bildes im Wissenschaftsbetrieb ab und wählte die rechteckige des Tafelbildes. Nicht zuletzt wurde der Form eine Richtung gegeben und ein Oben und Unten, ein Links und Rechts festgelegt, obwohl Mikrofotografien keine solchen Kategorien kennen.
           Carl Strüwe hat das Gebiet der künstlerischen Mikrofotografie, wie sein Biograf resümierend feststellt, „entdeckt und erkundet und damit gleichsam erfunden.“ (220) Für diesen Befund stand dem Autor ein Archiv mit 873 fotografischen, grafischen und malerischen Bildwerken zur Verfügung. Vor allem aber konnte er auf seine einschlägigen Kenntnisse zurückgreifen, zumal Gottfried Jäger (Jg. 1937) sich seit Jahrzehnten mit abstrakter Fotografie ebenso als Historiker wie als Künstler und nicht zuletzt theoretisch auseinandergesetzt hat. Dazu kommt, dass Jäger mit Strüwe befreundet gewesen ist, und man könnte meinen, dass damit die notwendige Distanz gefehlt hat, um der Persönlichkeit und dem OEuvre des Protagonisten gerecht werden zu können.
           Doch das Gegenteil ist der Fall: Es liegt eine Monografie vor, wie ich sie mir wünsche und die man durchaus als beispielhaft apostrophieren darf, gleichermaßen was Struktur, Inhalt und Darstellung anlangt. Die Gliederung in Kapitel und Abschnitte ist übersichtlich, die Folge schlüssig, sämtliche Abbildungen sind dort platziert, wo von ihnen die Rede ist. Ein illustriertes Werkverzeichnis sowie eine umfangreiche Dokumentation von zusammen gut 100 Seiten eröffnen den Blick auf Einzelheiten des Schaffens, den Werdegang des Fotokünstlers, seine Reisen, auf die Ausstellungen und Veröffentlichungen, die verwendeten Geräte und Präparate sowie auf ausgewählte Texte Strüwes.

 

„Dreieckform, 1930 „Urbild der Abwehr“, 1933
„Dreieckform, 1930, Mikrofotografie (S. 102) „Urbild der Abwehr“, 1933, Mikrofotografie (S. 110)

           Vor allem aber folgt Jäger der Person Strüwe nicht blindings, sondern schaut auf Künstler- und Fotografenkollegen, die ähnliche Themen und/oder Motive aufgegriffen haben, auf frühere Entwicklungen und auf Personen, die Strüwe nachgefolgt sind. Beachtet wir die Verbreitung seiner Arbeiten und die öffentliche Reaktion in den Foren der Meinung und auf den Märkten des Kunsthandels. Das Vorfeld und das Umfeld werden nicht nur als Handlungsräume beschrieben, sondern die Arbeitsweise einzelner Fotokünstler vorgestellt und mit Bildmaterial unterlegt. Beispielhaft greift Jäger vier mikrofotografische Werke Strüwes heraus, kategorisiert und analysiert sie nach allen Gesichtspunkten. Daneben erfahren die fotografischen Reiseberichte sowie das malerische und grafische Werk noch genügend Beachtung, damit man sich eine Vorstellung von der gesamten Leistung des Künstlers machen kann. Das Hauptaugenmerk liegt allerdings auf der künstlerischen Mikrofotografie, zu der Strüwe den maßgebenden Beitrag geleistet und damit eine neue Bildwelt eröffnet hat. Das Reale hat er umgeformt zu „Bildern an sich“, wie er sie in einem Schreiben von 1946 genannt hat (306), und so wurden neue Sphären des Unsichtbaren eröffnet und dem Fremden zu einem Bild verholfen.

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

September 2011

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© Timm Starl 2011

PDF - 221kb

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