Fotokritik |
Timm Starl
„Was ist Skulptur?“
Roxana Marcoci
FotoSkulptur
Die Fotografie der Skulptur 1839 bis heute
Mit Beiträgen von Geoffrey Batchen und Tobia Bezzola
Buch zur Ausstellung im Museum of Modern Art, New York und im Kunsthaus Zürich
Ostfildern: Hatje Cantz, 2010
31,3 x 24,8 cm, 255 S., 302 Abb. in Farbe sowie mehrere Ausschnitte
Gebunden, Schutzumschlag
€ 39,80
Wenn der Direktor des Kunsthauses Zürich in seinem Vorwort ankündigt, dass „anhand von rund 300 herausragenden Bildern und eindrucksvollen Werkgruppen die implizite Frage beantwortet wird: Was ist Skulptur?“ (7), dann stellt sich Skepsis ein. Vermögen denn eben diese 300 Fotografien mehr zur Klärung des Begriffs und seines Inhalts beitragen, als es die in mehreren Ausstellungen und begleitenden Katalogen der 1990er Jahre veröffentlichten Exemplare getan haben? Konnten etwa die damals abgesteckten Felder der fotografierten Skulptur und der Fotografie als Skulptur seither erweitert werden?
Die Frage der Bestimmung taucht ein weiteres Mal auf, wenn sie mit dem Titel einer Arbeit von Marcel Broodhaers aus dem Jahr 1975 kombiniert wird zu: „Daguerres Suppe: Was ist Skulptur?“ (167) Roxana Marcoci, die Kuratorin der Ausstellung in New York und Verfasserin eines einleitenden Essays sowie der Vorbemerkungen zu den zehn Kapiteln, geht allerdings nicht näher auf die Frage ein, sondern beschäftigt sich mit den alltäglichen Gegenständen, die von Man Ray, Brassai und anderen Künstlern bis Fischli/Weiss als skulpturale Objekte vor der Kamera arrangiert wurden. Eine Zwischenüberschrift an anderer Stelle greift ein Diktum von Joseph Beuys auf und mutet an, als würden die nachfolgenden Passagen eine Antwort parat haben, was jedoch nicht der Fall ist: „Alles ist Plastik“ (32) heißt es in dem Beitrag von Tobia Bezzola, der die Ausstellung in Zürich gestaltet hat. Bei der Lektüre dieses Textes kommen allerdings erheblicher Ärger und einiger Zweifel an der Redlichkeit des Verfassers auf.
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Adolphe Bilordeaux: Studie einer Gipshand, 1864, 30,7 x 23,8 cm (S. 45) |
Eugène Druet: Rodin, verkrampfte Hand, um 1898, 39,7 x 30 cm (S. 84) |
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Denn Bezzola erscheinen „[ü]ber die Stilgeschichte der Fotografie hinausreichend und von größerer Tragweite für die Geschichte der Kunst [...] im historischen Rückblick die Verfahren, Skulptur nicht nur abzubilden, sondern die Sphäre und den Begriff des Plastischen fotografisch zu erweitern.“ (28) Er macht die Entdeckung, die Kamera könne „in der Welt gefundene Konfigurationen in ihrer skulpturalen Qualität erkennen und als solche ausweisen“, ferner „sich selbst Gebilde als Motive erschaffen, die im fotografischen Bild ihren plastischen Formwert und narrativen Gehalt zur Geltung bringen.“ (30) Als bildliche Belege zitiert der Autor Werke der Surrealisten und Nahsichten des Neuen Sehens der 1920er Jahre, Körperinszenierungen der Wiener Aktionisten bis hin zu den Installationen der letzten Jahrzehnte. All dies wird ohne Bezug und Nachweise vorgetragen, als handle es sich um eigene Erkenntnisse und erstmals aufbereitetes Bildmaterial.
Doch kein Gedanke ist neu, sondern sämtliche wurden bereits Anfang der 1990er Jahre geäußert und erheblich gründlicher untermauert. Philippe Dubois hat einen Ansatz innerhalb seines Buches L’Acte Photographique von 1990 um Überlegungen zu „Installationen und Skulpturen“ erweitert und 1992 in einen Ausstellungskatalog eingebracht. Sein Befund holt wesentlich weiter aus und berücksichtigt beispielsweise die 1859 von François Willème erfundene Fotoskulptur, bei der mittels im Kreis angeordneter 24 gleichgeschalteter Fotoapparate das in der Mitte stehende Modell abgelichtet wird; anschließend werden die so entstandenen Profile und Halbprofile mittels Pantografen auf Metall oder Holz übertragen und die ausgeschnittenen Stücke miteinander verbunden, was schließlich eine Porträtbüste ergibt. Auch befasst sich Dubois mit immateriellen Konstrukten und erkennt Lichtexperimenten gleich welcher Dauer skulpturale Effekte zu. Régis Durand wiederum findet in einem Katalogbeitrag von 1991 im Kunstschaffen seit den 1960er Jahren eine Vorliebe für Szenerien, die ausschließlich für die Fotografie hergestellt werden. Letztlich hat Rosalind Krauss 1978 ein neues Denken über Skulptur und skulpturale Fotografie eröffnet, indem sie den Weg vom Denkmal zur Skulptur verfolgt und dabei den Verlust des Sockels konstatiert, womit die Verortung aufgehoben ist und sich nicht zuletzt Raum für Installationen und Einschreibungen der Land Art eröffnen.
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André Kertesz: Géza Blattner, 1925, 7,7 x 8,1 cm (S. 209) |
Zhang Dali: Abriss, Verbotene Stadt, Peking, 1998, 90,3 x 60,1 cm (S. 165) |
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Eine Ausstellung, die 1997 in Duisburg gestartet und im darauffolgenden Jahr nach Fribourg und Wien gewandert ist, vereinigte schließlich in dem Begleitband unter dem Titel Skulptur im Licht der Fotografie etwa 460 Abbildungen von Werken von rund 160 Künstlern. Bei der Auswahl des Bildmaterials hatte sich die Kuratorin Erika Billeter auf den Bereich der fotografierten Skulpturen beschränkt und auf Bilder von Fundstücken und surrealen Konstruktionen sowie von Happenings, Performances und Installationen verzichtet. Mehrere Textautoren folgten den eingetretenen Pfaden kunsthistorischer Interpretation; am Ende des Bandes kommt Heinrich Wölfflin mit seinen bekannten Überlegungen „Wie man Skulpturen aufnehmen soll“ von 1896/97 zu Wort.
Es fragt sich also, inwiefern die vorliegende Publikation von 2010 über die erwähnten Vorgängerinnen hinausgeht. Was die theoretische Auseinandersetzung angeht, fällt sie jedenfalls vor den Stand von vor 20 Jahren zurück, schon allein weil die damals vorgelegten und inzwischen zur Standardliteratur avancierten Texte zum Thema unbekannt geblieben sind, was bei einer Auswahlbibliografie von 450 bis 500 Titeln mehr als kurios erscheinen muss. Natürlich enthält das vorliegende Katalogbuch Abbildungen von mehreren damals nicht aufgenommenen Fotografien und von einigen wenigen Arbeiten, die seither erschienen sind. Andererseits wurden wichtige Bilder nicht berücksichtigt. In das Kapitel zu den menschlichen Skulpturen hätte als frühe Kreation sehr gut eine Aufnahme von Giorgio Sommer gepasst, der etwa zwei Jahre nach dem Ausbruch des Vesuvs von 1868 die Abgüsse von Körpern fotografiert hat. Der fotografierende Bildhauer Constantin Brancusi wird in einem eigenen Kapitel und mit einer Auswahl von 26 Wiedergaben seiner ohnehin immer wieder veröffentlichten Aufnahmen eigener Werke aus den 1920er bis 40er Jahren gewürdigt. Doch keine einzige Arbeit von Medardo Rosso, der in den 1880er und 90er Jahren gleichfalls seine Skulpturen abgelichtet hat, wird gezeigt. Aus der jüngeren Zeit hätten die Selbstinszenierungen von Dieter Appelt nicht fehlen dürfen, desgleichen würde eine Aufnahme einer Aktion von Christo und Jeanne Claude zeigen, wie Architektur mittels Verpackung zur Skulptur mutiert.
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Claes Oldenburg: „Project for Monuments“, 1967, Offsetlithografie, 88 x 57,2 cm (S. 225) |
Erwin Wurm: One Minute Sculpture, 1997/98, 45 x 30 cm (S. 236) |
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Gegenüber all den angeführten Defiziten – dass ein Namenindex fehlt, verwundert schon nicht mehr – fallen die klugen Bemerkungen von Geoffrey Batchen, der sich den fotografierten Skulpturen im 19. Jahrhundert zuwendet, nicht recht ins Gewicht. Er konzentriert sich auf die 1830er und 40er Jahre, insbesondere auf die Stillleben mit Skulpturen, die nicht wenige Daguerreotypisten und Fotografen der Frühzeit als Motiv gewählt haben. Als beherrschender Eindruck dieser FotoSkulptur als Buch bleiben die zahlreichen Auslassungen, die den Verzicht auf einen Erwerb des Bandes leicht machen.
Erwähnte Literatur
Philippe Dubois, „Fotografische Installationen und Skulpturen, oder eine gewisse Tendenz in den Beziehungen zwischen Fotografie und zeitgenössischer Kunst“, [Aus dem Französischen von Dieter Hornig; überarbeitet von Herta Wolf], in: Skulpturen / Fragmente. Internationale Fotoarbeiten der 90er Jahre, hrsg. von Herta Wolf, Ausstellungskatalog Wiener Secession, Zürich: Parkett/Scalo, 1992, S. 73-101
Régis Durand, „La photographie, un territoire de sculpteur. Photographie/Sculpture: Un Territoire incertain“, in: Photographie / Sculpture, Ausstellungskatalog Centre Nationale de la Photographie, Paris 1991, S. 119-122; erweiterte deutsche Fassung ohne Angabe der Erstveröffentlichung unter dem Titel „Ein Essai“, [Aus dem Französischen von Dieter Hornig], in: Skulpturen / Fragmente. Internationale Fotoarbeiten der 90er Jahre, hrsg. von Herta Wolf, Ausstellungskatalog Wiener Secession, Zürich: Parkett/Scalo, 1992 S. 46-63
Rosalind E. Krauss, „Skulptur im erweiterten Feld“ [1981], in: dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne [The Originality of the Avatnt-Garde and Other Modernist Myths, 1985], hrsg. und mit einem Vorwort von Herta Wolf, [Aus dem Amerikanischen von Jörg Heininger, durchgesehen und neu bearbeitet von Wilfried Prantner], Amsterdam, Dresden: Verlag der Kunst, 2000 (Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie, hrsg. von Herta Wolf, Band 2), 331-346
Skulptur im Licht der Photographie. Von Bayard bis Mapplethorpe, hrsg. von Erika Billeter in Zusammenarbeit mit Christoph Brockhaus, Ausstellungskatalog Wilhelm Lehmbruck Museum, Bern: Benteli, 1997
Bei der Abbildung handelt es sich um eine Wiedergabe aus der besprochenen Veröffentlichung.
April 2011
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© Timm Starl 2011
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