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Fotokritik

 

Timm Starl
„Die Extreme berühren einander“
Essays und Bilder von Oliver Wendell Holmes

Oliver Wendell Holmes
Spiegel mit einem Gedächtnis
Essays zur Photographie
Mit weiteren Dokumenten
Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Bernd Stiegler
(photogramme, hrsg. von Bernd Stiegler)
München: Wilhelm Fink, 2011
23,3 x 15,6 cm, 221 S., 64 SW-Abb.
Broschiert
€ 24,90

Seit Wolfgang Kemp in seiner Theorie der Fotografie von 1980 den Essay „Das Stereoskop und der Stereograph“ des Amerikaners Oliver Wendell Holmes in einer gekürzten deutschen Übersetzung vorgelegt hat, gehört der Text von 1859 zu den beliebten Steinbrüchen, aus dem sich die kunst- und fotohistorische Zunft gern bedient. Zumeist wird jener Passus angeführt, der auf die Weitsicht seines Autors abhebt. Dessen zentraler Satz lautet: „Die Form wird in Zukunft vom Stoff geschieden sein“, wobei die Trennung der fotografischen Nachbilder von ihren materiellen Objekten gemeint ist. Die Fotografien würden in Archiven gesammelt werden, so dass man auf das Original verzichten könne: „Reißen Sie es ab oder brennen Sie es nieder, falls sie mögen.“ (30). In den heutigen Zeiten mit ihrem virtuellen Archiv, aus dessen zahllos verfügbaren Bildern wir unsere Vorstellungen der Welt speisen, scheint dieses Diktum durchaus passend und vorausschauend. Doch die Herausgeber der vorliegenden Publikation denken, die Äußerung von Holmes sei „mehr ironisch als ernsthaft“ (208) gemeint gewesen.
            Zu verstehen ist sie ohnehin nur, wenn man den ungebrochenen Fortschrittsglauben um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Betracht zieht, der sich mit dem noch anhaltenden Staunen der Zeitgenossen trifft, wenn sie in den fotografischen Aufzeichnungen eine identische Wiedergabe des Realen zu entdecken meinen. Doch Holmes weiß zugleich von den Differenzen zwischen Vorbild und bildlicher Wiedergabe, wenn er den fotografischen Prozess verfolgt, der zunächst ein „Negativbild“ hervorbringt. In diesem sei „[j]eder Bildpunkt [...] so weit von der Wahrheit entfernt, wie es eine Lüge nur sein kann“ und damit „der Natur so fern und so nah, wie man es sich nur vorstellen kann.“ Das Positiv beruhe also auf einer Wiedergabe, die etwas zeigt, was das Original nicht ist. Rechts und links sind vertauscht, die Schatten sind hell, das Licht ist dunkel. „Die Extreme berühren einander.“ (16) Wie in der Wirklichkeit das Tatsächliche mit dem Möglichen einhergeht, die Ansicht mit dem, was sie verbirgt. „Das Wesen der Photographie ist für ihn jenes der Wirklichkeit insgesamt“ (206), erkennen die Herausgeber.
            Eben diese Passage hat Kemp in seiner Übertragung weggelassen, obgleich sie erst deutlich macht, worin der Zauber fotografischer Bilder für Holmes besteht. Er kann sich ebenso für die Übereinstimmung mit den realen Gegebenheiten begeistern und diese im Detail bewundern, wie er darüber hinwegzusehen vermag, um sich in die Gefilde des Poetischen zu begeben und in den Bildern phantasiereiche Exkursionen zu unternehmen. Denn Oliver Wendell Holmes (1809 – 1894) war – nach eigenem Bekunden – ebenso Anatomielehrer und Essayist wie Dichter, und seinen Streifzügen in der Bilderwelt wird man heute noch mit einigem Vergnügen folgen. Vor allem in dem zweiten Essay „Lichtbild und Lichtplastik. Mit einer stereoskopischen Reise über den Atlantik“ von 1861 kann der Leser William Shakespeare vor dem Haus von Ann Hathaway begegnen, als dieser bei ihr, „in Liebesgeflüster vertieft“, saß. (55) Oder er begleitet Holmes nach Pisa, „nicht wegen des Schiefen Turms und anderer bekannter Sehenswürdigkeiten, sondern wegen des Innenraums des Campe Santo [...] mit den verblassenden Fresken an den Wänden Sehen Sie nur, da sind die drei Könige [...]“ (65). Und wer möchte, mag dem Autor in weitere Städte folgen, nach Holland und Deutschland, an den Rhein, nach Griechenland oder Damaskus, „mit seinen verwahrlosten Häusern und grellen Ziegeldächern.“ (68)
            Holmes reist mit Vorliebe angesichts von Stereofotografien, deren zwei Abzüge durch einen Betrachter gesehen werden müssen, damit sie als eine einzige plastische Ansicht erscheinen. Er selbst hat 1859 ein solches Betrachtungsgerät entwickelt und erzählt in einem Text von dessen Entstehung und der Suche nach einem Unternehmen, das es produziert und vertreibt. Weniger zugetan ist er den in den 1860er Jahren aufkommenden kleinformatigen Visitfotos, die „billiger, gut zu transportieren“ sind und „zum Betrachten keinen Apparat“ benötigen. Doch um die „Wunder der Welt“ zu entdecken, bedürfe es des Stereoskops; die Cartes-de-visite mögen denen genügen, die „in die Ateliers der Photographen strömen, um sich ablichten zu lassen“ und dabei allesamt dieselbe Haltung einnehmen und dieselbe Miene aufsetzen (84). In dem Essay „Was die Sonnenstrahlen so bewirken“ von 1863 berichtet Holmes vom Besuch eines solchen Ateliers in New York, wo er sich die einzelnen Schritte der Herstellung dieserart Bilder erläutern lässt. Weit mehr interessieren ihn die Anwendungsmöglichkeiten der Fotografie – in der Kriminalistik, der Astronomie bis hin zu spiritistischen Experimenten –, über deren aktuellen Stand er referiert.
            Drei von den vier Texten sind Stereofotografien als Abbildungen beigegeben, die aus Holmes’ Sammlung von über tausend Exemplaren stammen und sich im Museum of Fine Arts in Boston befinden. Gelegentlich sind eben jene Ansichten eingeschoben, über die der Autor schreibt. Allerdings sind die Wiedergaben dermaßen klein, dass man auch mit Hilfe der Lupe oftmals nicht erkennen kann, wovon die Rede ist, sondern sich lediglich einem groben Raster gegenüber sieht. Begleitet werden die Essays zudem von ausführlichen Anmerkungen der Herausgeber, die weitreichende Hinweise zur Frühzeit der Fotografie und ihrer späteren Rezeption vor allem in der englischsprachigen Fachliteratur enthalten. Insbesondere aber gewinnt der Leser ein Bild des Protagonisten, welche Gestalten der Mythologie ihn angesprochen haben, welche Äußerungen in den historischen und literarischen Darstellungen ihn zu mancher Präzisierung und zu diesen oder jenen Vergleichen verholfen haben, aus welchen Werken der Malerei, Bildhauerei und Fotografie er Anregungen beziehen konnte.

 

Oliver Wendell Holmes: ohne Titel, erste Hälfte der 1860er Jahre Oliver Wendell Holmes: ohne Titel, erste Hälfte der 1860er Jahre (S. 179)

 

            Holmes hat Anfang der 1860er Jahre das Fotografieren gelernt und sich von einem Atelierbesitzer die nötigen Handgriffe zeigen lassen. Einige seiner Hervorbringungen sind am Schluss des Bandes wiedergegeben, doch die 25 Aufnahmen unterscheiden sich kaum von den Produkten der meisten Amateure jener Jahre. Sie führen uns zum Haus des Bildautors, zeigen den Ausblick auf die Landschaft und machen uns bekannt mit Verwandten und Freunden, die den Bildautor besucht und im Garten vor der Kamera posiert haben. Unter den wenig anregenden Bilder sticht jedoch eine Aufnahme hervor, die durchaus moderne Züge aufweist: ein Ensemble von drei Gartenstühlen, die so zueinander platziert sind, als würden sie ein Gespräch fortsetzen, das ihre unsichtbaren Benutzer geführt hatten. Insofern geht es einem bei der Durchsicht der Abbildungen wie bei der Lektüre der Texte, die dem Horizont und der Diktion des 19. Jahrhunderts verpflichtet sind, doch dann und wann einen wunderbaren Gedanken beinhalten, der unser heutiges Verständnis von Fotografie bereichert. So kann man sich nur freuen über das Erscheinen dieser Ausgabe mit der vollständigen Wiedergabe und Übersetzung der Essays und den vielfältigen und klugen Anmerkungen der Herausgeber.

Erwähnte Literatur
Oliver Wendell Holmes, „Das Stereoskop und der Stereograph“ [The Stereoscope and the Stereograph, 1859], gekürzt in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie I. 1839–1912, München: Schirmer-Mosel, 1980, S. 114-121

Bei der Abbildung handelt es sich um eine Wiedergabe aus der besprochenen Veröffentlichung.

April 2011

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© Timm Starl 2011

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