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Fotokritik

 

Timm Starl
Ein Höchstmaß an Annäherung und ein großes Maß an Entfremdung

Mikrofotografie
Schönheit jenseits des Sichtbaren
Hrsg. von Ludger Derenthal und Christiane Stahl
Ausstellungskatalog Kunstbibliothek. Staatliche Museen zu Berlin
und Alfred-Ehrhardt-Stiftung
Ostfildern: Hatje Cantz, 2010
30,5 x 23,5 cm, 255 (+1) S., 207 Abb. in Farbe
Gebunden
€ 39,80, Österreich € 40,90, CHF 56,90

 

 Joseph Albert: „Durchschnitt eines Backenzahnes vom Menschen“, 1861  Robert Koch (Umkreis): „M. Mucedo 40x. Ein großes Sporangium, etwas gedrückt, so daß die Columella sichtbar ist (Köpfchenschimmel)“, o.J.
Joseph Albert: „Durchschnitt eines Backenzahnes vom Menschen“, 1861, aus: Theodor von Hessling, Julius Kollmann, Atlas der allgemeinen thierischen Gewebelehre [...], Leipzig 1861 (S. 39) Robert Koch (Umkreis): „M. Mucedo 40x. Ein großes Sporangium, etwas gedrückt, so daß die Columella sichtbar ist (Köpfchenschimmel)“, o.J. (1880er Jahre?), 11,9 x 8,9 cm (S. 45)

 

Bekommt man als jemand, der beruflich nicht damit zu tun hat, Mikrofotografien vor Augen, so wirken diese einerseits abstrakt, andererseits vertraut. Die Vertrautheit verdanken die Bilder der Herkunft aus einer Welt der Winzigkeiten, gegenüber der wir uns ebenso souverän fühlen wie uns das Riesige Angst macht. Auch handelt es sich bei den Wiedergaben zumeist um runde Darstellungen, die als etwas Abgeschlossenes auftreten und keinen Blick über die Ränder hinaus provozieren. Nicht zuletzt ähneln sich im Blick des Laien manche Mikrofotografien mit ihren vielteiligen Erscheinungen häufig solchen, die man bereits gesehen zu haben meint. Oder das grafische Muster kommt irgendwie geläufig vor, als wäre man ihm im Realen schon einmal begegnet. Doch die Annahme, es gebe etwas wie Vorbilder, ist lediglich eine Konstruktion, weil der Mensch nur etwas erkennen kann, wenn im Gedächtnis zum Vergleich Ansichten des Realen – ob als Bild oder in der Wirklichkeit wahrgenommen – vorfindet. Und weil Mikrofotografien Objekte zeigen, die mit freiem Auge nicht zu sehen sind, existieren auch keine Referenzen. Was aber auf keine Spur im Realen trifft, wird als abstrakt angesehen.
          Es tritt aber jedes mikrofotografische Bild nicht nur als einmaliges auf, sondern es gleichen sich auch dann nicht unbedingt zwei Aufnahmen, wenn sie nacheinander vom selben Gegenstand angefertigt worden sind. Denn Präparate können Veränderungen unterliegen, wenn sie nicht ausreichend fixiert sind, es können zwischen zwei Aufnahmen Vertrocknungen oder Verfärbungen auftreten, was beispielsweise auf wechselnde Temperaturen zurückzuführen ist. Insofern handelt es sich bei Mikrofotografien streng genommen um Momentaufnahmen, was gleichermaßen auf die Produkte ihrer Schwester, der Astrofotografie, zutrifft – auch die leuchtenden Gebilde am Himmel verändern ihre Positionen. In beiden Fällen ist jedoch die Bewegung dermaßen langsam, dass sie sich in der fotografischen Aufzeichnung – ausgenommen bei extrem langer Belichtungszeit – nicht niederschlägt.
            Auf die genannten Aspekte wird in der vorliegenden Publikation nicht oder nur am Rande eingegangen, ging es doch den Herausgebern und Kuratoren der Ausstellung vornehmlich um die ästhetischen Dimensionen einer wissenschaftlichen Anwendung der Fotografie, nach denen die Kunstgeschichte seit zwei Jahrzehnten fahndet. Entsprechend bleiben in den Rückblicken die frühesten mikrofotografischen Hervorbringungen der Pioniere, die sämtliche ihre Kamera hinter ein Mikroskop setzten, unberücksichtigt, zumal sie sich als Bilder nicht erhalten haben. Sie sind allerdings in den fotohistorischen Übersichtswerken von Wolfgang Baier, Helmut Gernsheim und anderen nachzulesen: Louis Jacques Mandé Daguerre fotografierte eine Spinne; William Henry Fox Talbot unternahm 1835 Versuche mit dem Sonnenmikroskop und erhielt Mikrofotografien; Hippolyte Bayard operierte 1839 gleichfalls mit dem Sonnenmikroskop. All diese Aufnahmen verdanken sich weniger einem wissenschaftlichen Interesse der Bildautoren als einer Lust am Experimentieren, mit dem die Potentiale ihrer Verfahren erkundet werden sollten. Zugleich sind sie Ausdruck der Sehlust des 19. Jahrhunderts, das sein Wissen und seine Erkenntnisse zunehmend aus Bildern beziehen wollte. Noch vor den fotografischen Ansichten waren die optischen Geräte in die belletristische Literatur eingegangen, wenn beispielsweise E.T.A. Hoffmann im „Sandmann“ seine Figuren ihre Blicke durch ein Perspektiv, im „Meister Floh“ durch ein Mikroskop blicken ließ, bevor sich das weitere Geschehen entwickelte.

 

Richard Neuhauss: „Schneekristall“, 1892,
11,2 x 11,2 cm (S. 62)
Romanus Schmehlik: „Milbe“, 1912, Hälfte einer Stereofotografie, 8,8 x 16,9 cm (S. 63)

 

           Olaf Breidbach eröffnet mit einem Text zur „Mikrofotografie im 19. Jahrhundert“ die Sicht auf die besonderen Vergrößerungen, die das Medium seit 170 Jahren als abstrakte Konstrukte anbietet und vergessen lässt, dass die Fotografie mit der Aufhebung der räumlichen und zeitlichen Dimension keine anderen hervorzubringen imstande ist. Dabei entdeckt er Analogien zwischen den Präparaten und den fotografischen Produkten: Indem das zu untersuchende Objekt in einer flächigen Form vorliegt, fixiert und kontrastiert worden ist, trägt es bereits Züge seiner fotografischen Wiedergabe. Obgleich bedacht sein sollte, dass auch die dünnsten Durchschnitte noch immer Volumen aufweisen, wie auch die belichteten Schichten auf den fotografischen Bildträgern nicht völlig körperlos sind. Indem sich aber Aufsicht und Untersicht der Präparate nicht vollständig decken – was allerdings ohne Hilfsmittel nicht festgestellt werden kann –, ist auch die Verwendung des Begriffes „Fotogramm“ durch Breidbach nicht angemessen. Wenn nämlich bei Mikrofotografien die Kamera dem Mikroskop vorgeschaltet ist, wird dieselbe Ansicht aufgezeichnet, die sich auch im Blick durch das Mikroskop bietet. Während beim Fotogramm sich jene Seite abbildet, die auf dem fotosensiblen Material zu liegen kommt und daher vom Akteur während der Belichtung nicht zu sehen ist.

 

Otto Lehmann: „Sieben Aufnahmen zur Tropfenbildung bei Flüssigkristallen“, um 1904 Alfred Ehrhardt: „Vitamin C, ca. 150fach“, 1939
Otto Lehmann: „Sieben Aufnahmen zur Tropfenbildung bei Flüssigkristallen“, um 1904,
29 x 21 cm (S. 70)
Alfred Ehrhardt: „Vitamin C, ca. 150fach“, 1939, 22,5 x 18,2 cm (S. 100)

 

           Doch führen die analogen Dispositionen von Gegenstand und fotografischer Reproduktion nicht zu besonderen Einsichten, und Breidbach hält sich damit auch nicht weiter auf. Vielmehr weist er auf Probleme hin, mit denen das fotografische Personal auch bei anderen Anwendungen zu tun hatte: die Bereitstellung der notwendigen Lichtmenge zur Hervorbringung detailscharfer Bilder sowie die Einschränkungen, die sich durch die unterschiedliche Farbempfindlichkeit von Platten oder Filmen ergaben. Mit der Verwendung von Filtern und der Entwicklung neuer Trägermaterialien mussten sich Mediziner und Histologen ebenso auseinandersetzen wie die Kunsthistoriker, wenn es um die Fotografie von Kunstwerken ging. Und im Bereich mikroskopischer Darstellungen konkurrierten ebenso gezeichnete und kolorierte Wiedergaben mit den fotografischen. Bedenkt man, dass die Wissenschaften der einen wie der anderen Disziplin immer mehr mit Bildern arbeiteten, die von der Fotografie geliefert wurden, wäre dies ein moderater Ausgangspunkt gewesen, von den materiellen Bedingungen der Aufzeichnung zu den ästhetischen der Interpretation zu gelangen.
            Doch die Beiträge der übrigen Autoren und Autorinnen sehen mit einer Ausnahme entweder die wissenschaftliche oder die künstlerische Seite. Lediglich Herbert W. Franke verfolgt den „Grenzbereich von Kunst und Wissenschaft“, zu dem ihn die „Bildschöpfungen von Manfred Kage“ führen. Dieser arbeitete zunächst als ausgebildeter Chemiker in der Industrie, bevor er sich im Zuge mikroskopischer Untersuchungen für die „ästhetischen Eigenschaften“ seiner Objekte zu interessieren begann. Er fand neue Formen der Darstellung, konstruierte Apparaturen unter anderen zur videografischen Darstellung, entwickelte ein Kolorierungsverfahren für Elektronenmikrofotografien und nicht zuletzt ein Audioskop zur Sichtbarmachung von Musik. An Person und Werk von Kage wird deutlich, dass sich im Wechselspiel von Technik und Kunst ebenso andersgeartete Bilder wie neue Ansätze für Konstruktionen ergeben, die wiederum zu neuen Bildkreationen animieren und so weiter und so fort.

 

Fritz Brill: „Menthol-Kristalle“, 1959 Manfred Kage: „Siliziumwelten: Radiolarie, 350: I“,  2003
Fritz Brill: „Menthol-Kristalle“, 1959,
22,9 x 16,4 cm (S. 156)
Manfred Kage: „Siliziumelten: Radiolarie, 350: I“,
2003 (S. 189)

 

          Abgesehen von Franzsiska Brons, die sich den mikrofotografischen Aufnahmen des Mikrobiologen Robert Koch ab den 1870er Jahren widmet, und Annett Burzlaff, die „[a]ktuelle Methoden der Mikroskopie“ und die dafür benötigten Geräte präsentiert, beschäftigen sich die übrigen Beiträge mit ästhetischen Fragen. Christiane Stahl lässt die „Mikrofotografie der Moderne“ um 1900 beginnen und verfolgt sie entlang von Buchveröffentlichungen bis in die 1930er Jahre. Gottfried Jäger untersucht die „Mikrofotografie im künstlerischen Kontext in Deutschland von 1947 bis 1966“ und geht dem Wirken von Carl Strüwe nach. Ludger Derenthal stellt „[z]eitgenössische Positionen“ und die Suche von konzeptuell arbeitenden Künstlern nach neuen Bildwelten vor. All diese Beiträge erschöpfen sich in der Vorstellung künstlerischer Leistungen und ihrer Autoren, ohne sie in den Kontext kultureller und sozialer Entwicklungen zu stellen. So steht auch das opulente Bildmaterial für sich und wirkt wie der Sonderfall einer fotografischen Produktion, der nicht in den Disput mit anderen bildlichen Erscheinungen ihrer Zeit getreten ist.

Erwähnte Literatur
Hubertus von Amelunxen, Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, Übersetzungen von Sebastian Wohlfeil, Berlin: Dirk Nishen, 1989, S. 27.
Wolfgang Baier, „Die Mikrofotografie“, in: ders., Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie, München: Schirmer/Mosel, 1977, S. 389-394.
Helmut and Alison Gernsheim, L.J.M. Daguerre. The History of the Diorama and the Daguerreotype, New York: Dover Press, 21968, S. 194.
E.T.A. Hoffmann, „Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde“ [1822], in: ders., Werke in einem Band, München, Wien: Carl Hanser, 1981 (Die Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 24), S. 388-547.
E.T.A. Hoffmann, „Der Sandmann“ [1817], in: E.T.A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985, S. 331-363.

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

Januar 2011

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© Timm Starl 2011

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