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Fotokritik

 

Timm Starl
Klare und verschwommene Ansichten
Heinrich Kühn zum wiederholten Mal

Ausstellung
„Heinrich Kühn. Die vollkommene Fotografie“
Wien, Albertina: 11. Juni – 12. September 2010

Katalog
Heinrich Kühn
Die vollkommene Fotografie
mit Beiträgen von Monika Faber, Andreas Gruber, Françoise Heilbrun, Astrid Mahler, Anne Tucker
hrsg. von Monika Faber und Astrid Mahler
Ausstellungskatalog Albertina
Wien: Albertina, Ostfildern: Hatje Cantz, 2010
30 x 25,5 cm, 280 S., 281 Abb. in Farbe
Gebunden, Schutzumschlag
€ 49,80 (im Buchhandel)
Broschiert
€ 29,- (in der Ausstellung)

„Bei ungebührlicher Gründlichkeit verwirren und schwächen wir das Denken; und durchaus wohl mag es geschehen, daß die Venus selbst vom Firmament verschwindet, richtet ein forschender Blick sich allzu gezielt, allzu konzentriert oder allzu direkt darauf.“ Der Einwand Edgar Allan Poes erfolgte 1841 in einer seiner Detektivgeschichten, bei der es um die Aufklärung eines Verbrechens ging. Weil allzu viele Einzelheiten oftmals die Sicht auf die Zusammenhänge verstellen, empfehle es sich, die Dinge gelegentlich „nur aus dem Augenwinkel anzuvisieren.“ Damit wandte sich der amerikanische Schriftsteller nicht zuletzt gegen den positivistischen Hang der Zeit zu größter Vollständigkeit und Genauigkeit.
          Das in diesen Jahren aufgekommene neue Bildmedium kannte gewissermaßen beide Einstellungen: Die Daguerreotypie glänzte durch Detailreichtum und provozierte nicht wenige Betrachter zum Griff nach der Lupe; dagegen zeichnete sich die Kalotypie William Henry Fox Talbots durch geringe Schärfe aus, zumal als Träger von Positiv und Negativ Papier Verwendung fand. Die Erfindung Daguerres sollte sich zunächst durchsetzen, doch nimmt man die Zugänglichkeit als Kriterium, konnte sie als Unikat die Blicke einer nur kleinen Gruppe von Personen auf sich ziehen. Wogegen Talbots Verfahren eine Vervielfältigung erlaubte und die Bilder damit eine größere Zahl von Betrachtern zu erreichen vermochten.
          Man mag Poes Diktum auch als Ratschlag für den Entwurf von Geschichte sehen. Deren Konstruktion durch den Historiker bedarf ebenso des Aufgreifens einzelner Details wie des Weglassens von solchen, des schweifenden wie des fixierenden Blicks, der Nähe zu manchen Gegebenheiten und der notwendigen Distanz zu den Objekten des Interesses. Auf unseren Gegenstand bezogen – das Werk des Heinrich Kühn in der Vorstellung der Albertina – treffen wir ebenso auf einen Disput während des Wirkens des Protagonisten wie auf Betrachtungsweisen durch die Kuratorinnen der Ausstellung und Herausgeberinnen des begleitenden Kataloges. Die in den 1840er Jahren in England und Schottland stattgefundene Auseinandersetzung um den Wert der Unschärfe in fotografischen Bildern fand ihre Fortsetzung in der Bevorzugung unscharfer Ansichten durch die piktorialistischen Fotografen um 1900 und erlebte einen Wandel in einer weitgehend differenzierten Sichtweise, die sich in den vergangenen Jahrzehnten durchsetzte.

 

Heinrich Kühn: Sommerlandschaft, 1897 Heinrich Kühn: Landschaft mit Linden, 1898
Heinrich Kühn: Sommerlandschaft, 1897, Gummidruck, 26,8 x 37,4 cm (59) Heinrich Kühn: Landschaft mit Linden, 1898, Gummidruck, 50,8 x 73,5 cm (99)

 

          Kühns Primat einer sukzessiven Durchdringung des technischen Problems einer adäquaten Wiedergabe der Tonwerte stand gegen seine ein halbes Jahrhundert andauernde Beharrung auf unscharfen Bildlösungen, auch als diese Richtung Ansehen einbüßte und vom Gros der Lichtbildner zunehmend als unzeitgemäß eingeschätzt wurde. Die Ambivalenz in den Auffassungen gehörte zu den bestimmenden Merkmalen des Fotokünstlers und findet entsprechenden Niederschlag in dem vorliegenden Katalogbuch. Nicht so in der Ausstellung, die mit ihren rund 270 originalen und reproduzierten Fotografien sowie Büchern, Plakaten, Kameras, Patentschriften und einer Dia-Schau einer anderen Gliederung folgt und in den kurzen Einführungstexten die Widersprüchlichkeiten in den Anschauungen Kühns nur andeutungsweise zur Sprache bringt.

Ich will von Neuem beginnen: „Über keinen Fotografen sind seit Mitte der 70er Jahre dermaßen viele deutschsprachige Einzelveröffentlichungen erschienen wie über Heinrich Kühn [...]“, habe ich 1988 eine Vorbemerkung zu dessen Werdegang „in biografischen Aufzeichnungen“ eingeleitet. Damals waren mir drei Ausstellungskataloge und zwei Bücher bekannt, heute weiß ich von insgesamt acht einschlägigen Veröffentlichungen. Die vorliegende ist die neunte und umfangreichste, sie tritt mit dem Anspruch auf, „eine herausragende Gestalt der Fotogeschichte“ (14) angemessen zu würdigen. Denn, so die Begründung in der Einführung, „[s]eine Bedeutung als einflussreiches Mitglied der Bewegung“ der kunstfotografischen Amateure sei bislang „nur oberflächlich wahrgenommen“ und „ausschließlich in Argumenten beleuchtet [worden], deren sich schon seine Zeitgenossen bedient haben [...] Die exemplarische Qualität seiner Arbeit, die bisher durch eine mangelhafte Chronologie und die Konzentration der Ausstellungen auf immer die gleichen Werke nur unzureichend dargestellt werden konnte, war uns Beweggrund, eine umfassende Ausstellung und Monografie zu unternehmen.“ (12) Die Kritik an der bisherigen Aufarbeitung ist in Teilen durchaus berechtigt, der Einschätzung des Werkes wird man sich nur partiell anschließen können, den eigenen Ansprüchen des Vorhabens wurde in vielfacher Hinsicht entsprochen.
          Mit Sicherheit hat Astrid Mahler zahlreiche bislang unbekannte Daten zum Lebenslauf beigesteuert und den Werdegang des 1866 geborenen und 1944 gestorbenen Fotografen auf über 30 Seiten aufgezeichnet und illustriert (225 bis 255). Sie hat Gespräche geführt, die Korrespondenz und Publikationen Kühns gesichtet, die nachgelassene Bibliothek durchforstet, Protokolle von Klubsitzungen verfolgt, die Sekundärliteratur konsultiert. Wir erfahren von frühen Bergtouren, dem nicht abgeschlossenen Studium der Medizin, von der Übersiedlung von Dresden nach Wien und später nach Tirol, von einer Erbschaft 1893, die ihn finanziell unabhängig machte, von den ersten Gummidrucken 1896, die er im Camera-Club präsentiert, von Treffen und Reisen mit fotografierenden Kollegen, vom Tod seiner Frau Emma 1905 nach der Geburt des vierten Kindes, von einer möglicherweise intimen Beziehung zum Kindermädchen Mary Warner, die häufig Modell steht, von Geldnöten und der Gründung einer privaten Fotoschule, von Ausstellungsbeteiligungen und Veröffentlichungen, von der Hinwendung zu fotochemischen und -technischen Fragen in den 1920er Jahren, von Ehrungen im folgenden Jahrzehnt. Vieles ist mit akribischer Sorgfalt aufgelistet, einiges wird vermutet, manches weggelassen.

 

Heinrich Kühn: Edeltrude und Hans vor Pfauenfedertapete, 1907 Heinrich Kühn: Walther und Lotte an der Staffelei, 1909
Heinrich Kühn: Edeltrude und Hans vor Pfauenfedertapete, 1907, Autochrom, 24 x 18 cm (237) Heinrich Kühn: Walther und Lotte an der Staffelei, 1909, Gummidruck, 46,4 x 33,3 cm (139)

 

           Beispielweise ist der Name von Friedrich Vellusig zwar in einer Fußnote genannt, aber nicht vermerkt, dass er genannt, der sich 1894 als Erster in Wien am Gummidruck versucht hat, nachdem dieser bekannt geworden war – obgleich Odette M. Appel bereits 1978 auf diesen Tatbestand hingewiesen hat. So entsteht der Eindruck einer Priorität, wie ihn auch Kühn in einem Rückblick von 1934 vermittelt hat: „An einem Sonntag Nachmittag setzten wir Drei, Watzek, Henneberg und ich, uns im Kameraklub zusammen und studierten die Arbeitsweise [Robert] Demachys [...]“ (228), des französischen Erfinders dieses Edeldruckverfahrens. Ein weiteres Beispiel: Der Beginn des politischen Engagements wird auf 1936 datiert, der neunzeilige Absatz nennt einige Aktivitäten wie den Antrag auf Beitritt zur NSDAP. Der Zeitpunkt ist spät angesetzt, die Behandlung der Frage der Gesinnung eines Mannes, der 1911 und später Sozialdemokraten und Kubisten als „Sündenfall“ angesehen hat (78) und spätestens ab dem Ersten Weltkrieg großdeutschem Gedankengut anhing, fällt reichlich kurz aus. In welchem Ausmaß Kühn sich für den Nationalsozialismus begeisterte, zeigt unter anderem das Schreiben vom 3. Oktober 1940 an den deutschen Fotohistoriker Erich Stenger, das mit dem Satz abschließt: „Die Welt braucht nichts dringender, als die restlose Ehrlichkeit im Sinne eines Adolf Hitler“. Diese Bekundung wird nicht wiedergegeben, und insofern erwartet man mit Spannung den mehrfach erwähnten Materialband Heinrich Kühn. Schriften zur Fotografie, den Mahler ankündigt und herausgeben wird (251, Anm. 2). Zu hoffen ist, dass auch kritische zeitgenössische Stimmen zu Kühns Veröffentlichungen zu Wort kommen und damit die heutige Rezeption nicht alleine steht. Alles in allem bringen die Ausführungen zur Biografie eigentlich keine neuen Erkenntnisse, die das Schaffen des Fotografen in einem anderen Licht als bisher erscheinen lassen.

Ich setze ein weiteres Mal an: Heinrich Kühn zählt zu den bekanntesten Gestalten der Fotografie in Österreich. Die gemeinsamen Aktivitäten mit den Freunden Hugo Henneberg und Hans Watzek – gerne als „Kleeblatt“ oder „Trifolium“ tituliert – sowie der Austausch mit dem amerikanischen Piktorialisten, Galeriebetreiber und Herausgeber von Fotomagazinen Alfred Stieglitz sind geläufig. Ebenso bekannt sind die beiden Bücher, die Kühn 1921 und 1926 veröffentlicht hat, die häufige Präsenz auf nationalen und internationalen Ausstellungen von 1894 bis 1914, die Wertschätzung, die ihm von Seiten der Amateurfotografen zeitlebens entgegen gebracht worden ist, die Aufnahmen seiner Kinder und Mary Warners sowie manche Stillleben und einige Landschaften. Was aber rechtfertigt die Vorlage eines opulenten Bandes, der ansprechend und übersichtlich gestaltet ist und vorzüglich gedruckte Abbildungen enthält?
           Es sind meines Erachtens mehrere Gesichtspunkte, die bislang unbeachtet geblieben oder nur am Rande angesprochen worden sind: erstens eine Verbindung herzustellen zwischen dem bildnerischen Schaffen des Fotografen und den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen und Wandlungen während seines Lebens; zweitens eine Einordnung seiner Bilder in die künstlerische Produktion seiner Zeit, die über Werke der anderen Vertreter des Piktorialismus hinausgeht und auch die inhaltliche Seite berücksichtigt; drittens eine Beurteilung der Anstrengungen Kühns hinsichtlich der Untersuchung und Entwicklung von Aufnahmeverfahren, -technik und -material. Um es vorwegzunehmen: Beinahe alle Aspekte werden – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – angesprochen.
           Es ist ein Verdienst dieser Monografie, dass Kühn aus der Isoliertheit allein foto- und kunsthistorischer Betrachtung befreit wird und ansatzweise ein Kontext zu den Hervorbringungen bildender Künstler, zur Literatur und zu den Ansprüchen des Bildungsbürgertums, aus dessen Kreisen sich die Amateurbewegung großteils rekrutierte, hergestellt wird. Zwar ist manches nur angedeutet – das Zusammentreffen etwa mit „Gustav Klimt und Ferdinand Hodler“ (12) –, und es wurde allzu behende auf spätere Sekundärliteratur zurückgegriffen unter Verzicht auf Äußerungen von Zeitgenossen, was zu vorschnellen Schlüssen führt. Nicht Gisèle Freund hat in ihrer Dissertation von 1936 „als erste auf die Anbindung der fotografischen Entwicklung an bürgerliche Schichten hingewiesen“ (82, Anm. 41), sondern bereits Alfred Lichtwark in einer Studie zum Amateurwesen von 1894. Doch weit relevanter erscheinen mir die Hinweise auf die sezessionistische Literatur der Jahrhundertwende, wobei vornehmlich Hugo von Hofmannsthal zitiert wird, die eine „weitgehende Loslösung vom Naturvorbild“ (74) im Sinne des Verzichts auf Detailgenauigkeit das Wort redet. Ich hätte mir diesbezüglich einige weitergehende und tiefer greifende Erörterungen gewünscht, auf dass die Fluchten ins Paradiesische am Ende einer auslaufenden Epoche und am Vorabend des Ersten Weltkrieges noch prägnanter hervortreten würden.

 

Heinrich Kühn: Der Malschirm II, 1909, Abzug nach 1911 Heinrich Kühn: Lotte Kühn auf der Wiese, 1908
Heinrich Kühn: Der Malschirm II, 1909, Abzug nach 1911, Gummigravüre, 23 x 28,9 cm (77) Heinrich Kühn: Lotte Kühn auf der Wiese, 1908, Autochrom, 18 x 24 cm (149)

 

           Entgegen den meisten monografischen Darstellungen werden nicht nur Arbeiten des Protagonisten präsentiert, sondern diese – zumindest was die 1890er und 1900er Jahre angeht – im Kreis der österreichischen und ausländischen Künstler gesehen. Wir begegnen einzelnen Werken der Maler Oskar Kokoschka, Max Liebermann, Georges Seurat und anderer sowie fotografischen Schöpfungen von Alvin Langdon Coburn, Robert Demachy, Hugo Henneberg, Edward Steichen, Alfred Stieglitz, Hans Watzek und weiterer Fotografen. Vergleichsaufnahmen zu den Autochromen – das erste praktikable Farbfotoverfahren – , mit denen sich Kühn ab 1907 über Jahre intensiv beschäftigte, sind offenbar nicht gefunden worden.
           Die Gegenüberstellungen sind allerdings nach der Maßgabe motivischer und gestaltersicher Ähnlichkeiten vorgenommen worden. Was dabei nicht deutlich und auch im Text nicht behandelt wird, ist das geringe inhaltliche Spektrum, dem sich Kühn verpflichtet hat. Wenn beispielsweise Stieglitz dem großstädtischen Treiben auf den New Yorker Straßen einige Aufmerksamkeit geschenkt oder Frederick H. Evans Architekturstudien betrieben hat, so ging der Blick Kühns nur gelegentlich über seine Familie samt Personal hinaus. Aber gerade diese Einschränkung zeichnet ihn auf besondere Weise innerhalb des Kreises der künstlerisch orientierten Amateure aus. Denn er stellte das Private ins Zentrum seines Bildschaffens, motivisch analog den seit den 1880er Jahren aufkommenden Knipsern, kompositorisch allerdings mit anderen Ausdrucksmitteln arbeitend. Spaziergänge in der Natur, alltägliche Situationen im Garten oder in der Wohnung, immer wieder die eigenen Kinder – dies waren auch die bevorzugten Themen der knipsenden Amateure. Und insofern bewegte sich Kühn – man möchte sagen – auf der Höhe der Zeit: die Regression auf die intimen Bereiche des Daseins, die Behauptung einer Sphäre, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, entsprach einer Position, die dem allgemeinen Gefühl jener Epoche Ausdruck verlieh – umfassender und pointierter als die Wirklichkeit mit Unschärfe zu verbrämen, wie es der kleine elitäre Zirkel der piktorialistischen Fotografen praktizierte. Hinter den unscharfen Kreationen Kühns dagegen tritt die Bestimmtheit hervor, mit der die bürgerlichen Zeitgenossen ihre individuelle Existenz verteidigten.
           Im Gegensatz zu früheren Texten aus anderer Feder beschäftigt sich Monika Faber ausführlich mit den Studien zu den Tonwerten, die Kühn ab 1904 konzentriert betrieben hat. Angeregt wurde er wohl durch die Schriften der ausgehenden 1880er Jahre und danach, die der Engländer Peter Henry Emerson zur Wahrnehmung des Realen und zu seiner fotografische Umsetzung verfasst hat. Gekannt haben wird er auch die Essays des französischen Theoretikers der Kunstfotografie Robert de la Sizeranne, insbesondere jenen Text von 1897, in dem es heißt: „[D]er Fotograf interveniert [...] im Entstehungsprozeß des Bildes: bei der Entwicklung des Negativs“, für das er “die Skala und den Nenner der Tonwerte“ wählt. Über Jahre testet Kühn diverse Negativmaterialien und Entwicklerzusammensetzungen, um jene Platten und Filme beziehungsweise Komponenten von Chemikalien zu finden, die „Lichter und Schatten möglichst tonrichtig wiederzugeben“ imstande sind (23). Vielfach werden zu Vergleichszwecken Bildstudien vom selben Motiv angefertigt.

 

Heinrich Kühn: Akt (Mary Warner), 1906 Heinrich Kühn: Mary am Hang, um 1908
Heinrich Kühn: Akt (Mary Warner), 1906, Platinotypie, 28,8 x 18,8 cm (239) Heinrich Kühn: Mary am Hang, um 1908, Autochrom, 24 x 14 cm (165)

 

          Die Autorin erläutert eingängig das Bemühen Kühns um eine „reine Photographie“, wie er es nennt (23), betont aber daneben, dass der Fotograf „nicht davor zurückschreckt, mit dem Pinsel etwas nachzuhelfen“ (25), also gegen das von ihm selbst aufgestellte Prinzip verstößt. Gegenüber der Tonwertrichtigkeit erfahren seine technisch-optischen Erfindungen – wie schon in der früheren Literatur zu Kühn – nur marginale Erwähnung: neben anderem das von ihm und dem Münchner Franz Staeble entwickelte Weichzeichner-Objektiv, das die Firma Rodenstock 1931 als „Tiefenbildner-Imagon“ in den Handel brachte (247).

Was bleibt? Kühn muss als engagierter und lebenslanger Anhänger der piktorialistischen Fotografie angesehen werden, in Österreich zu den führenden Vertretern zählend, innerhalb der internationalen Szene sowohl im Hinblick auf die thematischen Begrenzungen und die gestalterische Ausrichtung nicht an die Spitze heranreichend. Seine Kompositionen bieten wenig Originelles, die Posen der Modelle wirken dann und wann sogar recht bemüht, die Familienbilder brav, die Landschaften verschwinden oft hinter allzu intensiven Farbgebungen, alles Bewegte scheint starr, dem fotografischen Akt sowie der Be- und Überarbeitung ausgeliefert, die verschwommenen Ansichten vieler Gummidrucke und Ölumdrucke leugnen das Wesen der Dinge. Inwieweit die Ergebnisse seiner Untersuchungen zur Tonwertrichtigkeit Eingang in die Praxis anderer Lichtbildner gefunden haben, ist nicht bekannt. Ihn selbst haben sie in seiner Kreativität eher behindert, wie Erwin Quedenfeldt 1924 bemerkte: „Kühn hat leider immer mehr eine Entwicklung zu einer ununterbrochenen Fülle der Töne genommen, wie er überhaupt sich viel zu sehr von der reinen photographischen Technik hat gefangen nehmen lassen, statt dass er dem künstlerischen Formgefühl eine freie Eigengestaltung innerhalb der photographischen Mittel erlaubt hätte.“

 

Heinrich Kühn: Pfingstrosen im Glas, um 1906 Heinrich Kühn: Spielzeug, 1907/08
Heinrich Kühn: Pfingstrosen im Glas, um 1906, Gummidruck, 23 x 29 cm (207) Heinrich Kühn: Spielzeug, 1907/08, Autochrom, 18 x 24 cm (73)

 

          Die Autorinnen sehen das Œuvre des Fotografen mit anderen Augen und sprechen ihm höhere Werte zu. Manchmal wird aber gar weit gegangen, wenn nämlich in vereinzelten Schrägsichten sofort eine Nähe zum Neuen Sehen der 1920er Jahre erkannt wird (204), die sich wohl mehr der Nähe der Verfasserin zu ihrem Objekt verdankt als einem fundiert begründbaren Konnex. Wie nicht jedes unscharfe Ergebnis der Kunstfotografie zugeordnet werden kann, verweist nicht jede schräge Perspektive auf einen avantgardistischen Entwurf. Nichts an Kühn war wirklich modern, vieles unzeitgemäß, das eine und andere mag heute noch interessieren. Die wesentlichen Aufschlüsse zu den Aktivitäten des Fotografen haben – zumindest im Ansatz – bereits die beiden Beiträge von Hermann Speer und Ute Eskildsen in der Ausstellungskatalogen der Jahre 1976 und 1978 geliefert. Die vorliegende Anthologie stellt eine wertvolle Ergänzung dar, liefert sie doch – vor allem auch mit den zahlreichen und vielfach nicht veröffentlichten Illustrationen – zu einzelnen Stationen und Perioden im Leben des Protagonisten oftmals aufschlussreiche Ergänzungen.

 

Erwähnte Literatur
Odette M. Appel, „Heinrich Kühns Werk um die Jahrhundertwende“, in: Heinrich Kühn 1866–1944. 110 Bilder aus der Fotografischen Sammlung Museum Folkwang Essen 1.12.1978–14.1.1979, Ausstellungskatalog Museum Folkwang, Essen 1978, S. 2-7, hier S. 3.
„‘Ein Vorkämpfer für die deutsche Kultur’. Der Werdegang Heinrich Kühns in biografischen Aufzeichnungen, zusammengestellt und mit einer Vorbemerkung versehen von Timm Starl“, in: Fotogeschichte, Heft 28, 8. Jg., 1988, S. 49-54, hier S. 49.
Ute Eskildsen, „Heinrich Kühns Arbeiten nach dem 1. Weltkrieg bis 1944“, in: Heinrich Kühn 1866–1944. 110 Bilder aus der Fotografischen Sammlung Museum Folkwang Essen 1.12.1978–14.1.1979, Ausstellungskatalog Museum Folkwang, Essen 1978, S. 8-14.
Gisèle Freund, Photographie und bürgerliche Gesellschaft. Eine kunstsoziologische Studie, München: Rogner & Bernhard, 1968.
Heinrich Kühn, Schreiben vom 3. Oktober 1940 an Erich Stenger (Museum Ludwig, Agfa Photo-Historama, Köln).
Heinrich Kühn, Technik der Lichtbildnerei, Halle/Saale: Wilhelm Knapp, 1921
Heinrich Kühn, Zur photographischen Technik, Halle/Saale: Wilhelm Knapp, 1926 (Enzyklopädie der Photographie und Kinematographie, H. 109).
Alfred Lichtwark, „Das Aufleben des Dilettantismus“, in: ders. Wege und Ziele des Dilettantismus [1894], Berlin: Bruno Cassirer, 1902, S. 11-43, hier S. 15, 19-22.
Edgar Allan Poe, „Die Morde in der Rue Morgue“ [The Murders in the Rue Morgue, 1841], in: ders., Arabesken, Detektivgeschichten, Deutsch von Arno Schmidt und Hans Wollschläger, Herrsching: Manfred Pawlak, 1979 (Das gesamte Werk in zehn Bänden, Bd. 2), S. 723-777, hier S. 747.
Erwin Quedenfeldt, „Photographische Formprobleme“ in: Schweizerische Photographische Zeitung, 21.-24. Jg. 1924–1926, 1924, S. 165-170, hier S. 167.
Robert de la Sizeranne, „Ist die Fotografie eine Kunst?“ [1897], in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie I. 1839–1912, München: Schirmer-Mosel, 1980, S. 212-218, hier S. 214.
Hermann Speer, „Heinrich Kühn, eine photographische Skizze“, in: Heinrich Kühn 1866—1944. Photographien, Ausstellungskatalog Galerie im Taxispalais, Innsbruck 1976, S. 2-6.

Die Abbildungen sind Wiedergaben aus dem besprochenen Katalog.

August 2010/November 2010

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© Timm Starl 2010

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