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Fotokritik

 

Timm Starl
Geschichte als Gegenwart und Vergangenheit

Menschen, Orte, Zeichen
Fotografie am Deutschen Historischen Museum
Hrsg. von Dieter Vorsteher und Heike Hartmann
Berlin, Heidelberg: Edition Braus, 2009
29,5 x 24,3 cm, 392 S., 629 Abb. in Farbe
Gebunden
€ 48,-, SFR 77,90

Rudolf Herz
Lenin on Tour
Buch zur Ausstellung im Museum Ludwig, Köln
deutsch/englisch
Göttingen: Steidl, 2009
26 x 25 cm, 271 S., 250 Abb. in Farbe
Gebunden
€ 35,-

Was haben die beiden Bücher miteinander zu tun? Sie liefern Ansichten zur Geschichte. Sie sind reichhaltig illustriert. Sie kommen ohne Inhaltsverzeichnis aus. Sie beginnen, wie es sich gehört, mit Erläuterungen zum Projekt und zur Veröffentlichung. Am Ende der Bücher sind jeweils Biografien versammelt. Es finden auch Begegnungen mit denselben Personen statt: Christoph Stölzl wird einmal als Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums, der die hauseigene Fotosammlung initiierte, erwähnt (DHM, 9), und erläutert im anderen Band, inzwischen zum Politiker avanciert, weshalb er sich nicht an dem Vorhaben von Rudolf Herz beteiligen wollte (Herz, 252). Lenin ist als teilweise zerstörte Skulptur da wie dort präsent: Zu sehen ist der demontierte Kopf des Berliner Lenin-Denkmals (DHM, 209), und wir können einen Teil des Dresdener Lenin-Denkmals durch die gesamte Publikation begleiten (Herz, 7 bis 245).

 

Yehuda Altmann: „Demontierter Kopf des Berliner Lenin-Denkmals, Berlin, Dezember 1991“ Reinhard Matz oder Irena Wunsch: Die Lenin-Büste nach der Tour in Gundelfingen (Ausschnitt), 2004
Yehuda Altmann: „Demontierter Kopf des Berliner Lenin-Denkmals, Berlin, Dezember 1991“ (DHM, 209) Reinhard Matz oder Irena Wunsch: Die Lenin-Büste nach der Tour in Gundelfingen (Ausschnitt), 2004 (Herz, 245)

 

Die beiden Bücher haben gar nichts miteinander zu tun. Worum geht es? Die 1974 vor dem Dresdener Hauptbahnhof aufgestellte Monumentalskulptur mit Lenin, einem Arbeiter und einem Rotfrontkämpfer wurde 1991 zerlegt, später nach Gundelfingen gebracht und dem Steinmetz Josef Kurz übereignet. Rudolf Herz lieh sich die Büsten der Dreiergruppe und ließ sie auf einem Transporter festmachen. Mit dem Fahrzeug besuchten der Künstler und seine Begleiter 2003 und 2004 mehrere europäische Städte. Das Motto der Unternehmung lautete: „Meinen Zeitgenossen zeige ich Lenin. Und Lenin das 21. Jahrhundert. Wer erklärt es ihm?“ Der Band verfolgt die Reise.
            Das Deutsche Historische Museum sammelt seit 1990 „Fotografie zur Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts“ (DHM, 7). Mit Ausstellungen und Kalendern wurde das Material bekannt gemacht. „Nun“, findet der für die Sammlung zuständige Dieter Vorsteher, sei „die Zeit reif für eine Zusammenschau zwischen zwei Buchdeckeln.“ (DHM, 9)
            Bei Herz äußern sich zahlreiche bekannte und unbekannte Personen angesichts der Statuen oder im Rahmen von begleitenden Veranstaltungen zu dem Projekt, zu Lenin, zur Situation von früher und von heute. Dazu gehören Schriftsteller, Philosophen, Historiker, Kunstkritiker und -kuratoren, Ökonomen – sowie Passanten, Männer und Frauen, junge und alte. Sie sind zudem in kleinformatigen Porträts anwesend, die während der Abgabe der Statements entstanden und neben diesen abgebildet sind. Rudolf Herz fasst in Schlagworten zu den einzelnen Stationen zusammen, was sich jeweils zugetragen und wen man dort getroffen hat. Aber auch jene „Redner, die nicht auftraten“ (Herz, 251 ff.), also der Einladung zu einem Gespräch nicht gefolgt sind, haben Eingang in das Buch gefunden, indem die Gründe für die Absagen angeführt, manchmal zitiert werden.
            Zur Sammlungsschau des Deutschen Historischen Museums vernehmen wir ausschließlich die Stimmen der Herausgeber. Sie referieren über „[d]ie Fotografie und der historische Moment“ (DHM, 11 bis 17) und über „Wege der Fotografie“ (18 bis 23), wobei die altbekannten fotogeschichtlichen Pfade verfolgt werden. Vorsteher geht es vor allem um die Nähe von historischem und fotografischem Moment, deren Abstand mit den zunehmenden technischen Möglichkeiten des Mediums seiner Meinung nach geringer würde. Dass beide ihre Bestimmung und Bedeutung erst erlangen, wenn die Sprache zu Hilfe kommt, machen die Bildlegenden deutlich, die erläutern, was zu sehen ist beziehungsweise welche Gegebenheit dazu geführt hat, dass fotografiert worden ist. Auch wenn weitgehend eine chronologische Reihung verfolgt wird, geht es nicht um eine zusammenhängende Darstellung von historischen Ereignissen in Bildern, sondern um eine Aneinanderreihung von Bildmaterial, das im Laufe der Jahre für ankaufs-, also museumswürdig befunden worden ist. Daraus erfolgte wiederum eine Auswahl nach der Maßgabe, was sich zur Abbildung besonders eigne. Polemisch ausgedrückt: Hunderte Seiten Bilder werden mit Geschichte angereichert, um ein Bild der Sammlung vorzuführen.

 

Barbara Klemm: „Strassenkämpfe während des Besuches von Ronald Reagan, Westberlin, 11. Juni 1982“ Reinhard Matz oder Irena Wunsch: Lenin in Zürich (Ausschnitt), 2004
Barbara Klemm: „Strassenkämpfe während des Besuches von Ronald Reagan, Westberlin, 11. Juni 1982“ (DHM, 174) Reinhard Matz oder Irena Wunsch: Lenin in Zürich (Ausschnitt), 2004 (Herz, 75)

 

           Demgegenüber geht es bei Lenin on Tour nur um ein einziges Bild, wenn man die drei Büsten auf dem Lastwagen als ein solches verstehen will. Dieses eine Bild diente einer Vielzahl von Zeitgenossen zu Analysen und Assoziationen, provozierte zu Unmutsäußerungen und Zustimmungsbekundungen, ließ Fragen aufkommen und Erinnerungen aufleben. Das Spektakel erinnert an die Strukturen eines Schauspiels auf Wanderbühnen: eine Szenerie, mehrere Akteure, verschiedene Schauplätze, ein begrenzter Zeitraum, wachsendes Publikum. Die Mobilität der Skulpturen gewährleistete eine Vielfalt an Meinungen und Reaktionen. Lenin kam zu den Menschen von heute, damit sie sich einen Begriff von Geschichte machen konnten. Die aufgezeichneten Wortmeldungen und die wiedergegebenen Aufnahmen verweisen darauf, dass außerhalb der Gegenwart keine Geschichte existiert. Und wer Geschichte schreibt und wer sein Subjekt ist. Und dass der Kunstdiskurs auf anderen Ebenen als den gewohnten stattfinden kann. Und welcher Unterschied zwischen der Darbietung von Artefakten in geschlossenen Zirkeln und öffentlichen Räumen besteht.

 

Postkartenverlag Hans Hartz: „Blick über Berchtesgaden auf den Watzmann, 1957“ Reinhard Matz oder Irena Wunsch: Lenin in den Schweizer Bergen (Ausschnitt), 2003
Postkartenverlag Hans Hartz: „Blick über Berchtesgaden auf den Watzmann, 1957“ (DHM, 319) Reinhard Matz oder Irena Wunsch: Lenin in den Schweizer Bergen (Ausschnitt), 2003 (Herz, 35)

 

           Die Vermittlung des Projekts als Buch folgt dem Vorgehen im Realen. Die Aufnahmen des fahrenden und haltenden Lastwagens mit den Figuren auf der Ladefläche sind je Station ohne Abstand nacheinander und rundum abfallend wiedergegeben, wobei einzelne Bilder gelegentlich über den Bund oder bis zur nächsten Seite fortgesetzt werden. Die Durchsicht wird damit ebenso mit scharfen Schnitten unterbrochen, wie der Betrachter zum Weiterblättern animiert wird. In die Textpassagen sind die kleinformatigen Bildnisse der Interviewten und Redner eingestreut. Der Leser und Betrachter verlangsamt das Tempo. Er fährt also mit Herz und seiner Begleitung und hält mit ihnen an, um zuzuhören, was dieser Redner und jene Gesprächspartnerin zu sagen haben.
           Die Anordnung der Abbildungen aus dem Deutschen Historischen Museum verlangt nicht, diese in derselben Reihenfolge anzusehen. Nichts wird verständlicher, wenn man den Band von vorne nach hinten durchblättert, wie ja auch die Sammlung nicht nach chronologischen Gesichtspunkten entstanden ist. Kein Bild verlangt nach einem anderen. Man kann sich einzelne Fotografen oder Prominente, eine bekannte Gegend vornehmen – das anhängende „Register der Personen, Orte und Parteien“ weist den Weg. Wen es interessiert, der erfährt in einem „Abbildungsverzeichnis“, ob ein alter oder ein Neuabzug zur Reproduktion vorgelegen hat. Ob die Inventarnummer mit dem Jahr der Anschaffung übereinstimmt, wird nicht verraten. Alles in allem: ein ordentlich gemachter Auswahlband mit dem nötigen Anhang.
           Und doch haben die beiden Bände sehr viel miteinander zu tun: Sie artikulieren das Geschichtsverständnis unserer Tage, das traditionelle, vorherrschende auf der einen Seite und ein kritisches, außerordentliches auf der anderen. Sie führen vor, wie Geschichte von Einzelnen verkündet und von vielen artikuliert wird. Sie zeigen anschaulich, wie Fotografien gewissenhaft dargeboten werden können und wie mit ihnen argumentiert werden kann. Sie zeigen Beispiele fotografischer Kunst für ein betrachtendes, aber schweigendes Publikum und die Kunst der Inszenierung, die Menschen zum Reden bringt.

Die Abbildungen sind Wiedergaben aus den besprochenen Bänden.

April 2010

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© Timm Starl 2010

PDF - 243kb

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