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Fotokritik

 

Timm Starl
Geschichte mit Bildern

Jens Jäger, Martin Knauer (Hrsg.)
Bilder als historische Quellen?
Dimension der Debatten um historische Bildforschung
München: Wilhelm Fink, 2009
21,4 x 13,3 cm, 207 S.
Broschiert
€ 19,90

„Die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Zeugnisse
ist nahezu unendlich.“
(Marc Bloch, 1941/42)

Fragen nach dem Bild als historische Quelle haben seit der Wehrmachtsausstellung 1995 Konjunktur. Dass schon früher unter Kunst(und Foto-)historikern darüber diskutiert worden ist – man denke an die Tagung „Fotografie als historisches Dokument“ in Frankfurt am Main 1984 –, hat die Geschichtswissenschaft nicht berührt, hielten sie diese doch seit jeher für die Bilder zuständig und sich selbst für kompetent in Sachen Text. Beide Disziplinen schätzten jeweils lange Zeit die Quellen der anderen niedrig. Die Historiker nahmen Bilder vornehmlich zur Illustrierung ihrer schriftlich vorgetragenen Erkenntnisse, die Kunsthistoriker bewegten sich mit Vorliebe in den Bildern und widmeten dem Verhältnis von Bild und Text wenig Beachtung. Inzwischen herrscht überwiegend Konsens, dass visuellen Quellen derselbe Rang innerhalb des historiografischen Diskurses gebührt wie den schriftlichen und mündlichen (der Oral History). Diese Gleichsetzung geht bis zu der seltsamen Feststellung, Bild- und Textanalysen seien nach denselben Methoden vorzunehmen, was Jens Jäger in seiner Einführung in die Historische Bildforschung von 2000 noch propagiert hat.
           Doch nicht nur weisen die Bilder der diversen Medien eine jeweils andere Beziehung zu den realen Gegebenheiten auf, mit denen sie sich auseinandersetzen und bedürfen deshalb eines anderen Instrumentariums, um ihren Aussagewert zu bestimmen. So ist das narrative Potential von bewegten Bildern – Film, Video – anders zu gewichten als jenes von ‘stehenden’ – Gemälde, Grafik, Foto, Briefmarke und so weiter. Denn während die einen Vorgänge aufzeichnen und in derselben Zeit registrieren, wie das Geschehen vor der Kamera abläuft, inszenieren die anderen ein Einhalten in der Zeit, also einen Stillstand, den die Wirklichkeit nicht kennt. Auch bedürfen die unbewegten Bilder immer eines begleitenden Textes, weil sie zwar einen gewesenen Sachverhalt zeigen, ihn aber nicht (ausreichend) zu identifizieren vermögen.
           Für die Fotografie hat auf diesen Umstand beispielsweise der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Bruno Fritzsche anlässlich einer Tagung 1991 in Zürich hingewiesen und zugleich ein zukünftiges Forschungsfeld aufgegeben: „So paradox es klingen mag: die Photographie, dieser (vermeintliche) Abklatsch der Wirklichkeit sagt nichts aus über die historische Realität, erst in der Verbindung mit einem erklärenden Text gibt sie gewisse Informationen frei.“ So entlarvt beispielsweise erst eine bestimmte Zuschreibung in der Bildunterschrift das retuschierte oder montierte Foto als Fälschung. Die Abhängigkeit mancher Bilder von Legenden, die generell ihre Lesbarkeit und jeweils die Lesart bestimmen, wäre ein Problemkomplex, den sich mehrere historische Fächer angelegen lassen sein könnten.
           Der Historiker Jens Jäger geht parallele Wege, indem er von zwei Positionen aus nach Grundlagen sucht, auf denen weitere Überlegungen aufzubauen wären. Zum einen hat er 2009 eine weitere Einführung zum Thema Fotografie und Geschichte vorgelegt, in der die Daten wesentlich ausführlicher aufbereitet und differenzierter argumentiert wird als in seiner früheren Veröffentlichung zur Bildforschung. Auch wenn man nicht jeder Einschätzung des Autors zustimmen mag, hat er doch das Feld des Fotografischen in Geschichte und Theorie so weit grob aufbereitet, dass es für die Historischen Wissenschaften begehbar wird. Bezeichnend für die erweiterte Sicht wäre die Abbildung einer Bildpostkarte zu nennen, von der Vorder- und Rückseite vorgestellt werden, also die fotografische und die schriftliche Mitteilung zu sehen sind und die Ansichten des Bild- und des Textautors ins Verhältnis gesetzt werden können.
           Daneben erscheint das vorliegende Buch, in dem der Umgang der Historiker mit Bildquellen untersucht wird. Jäger befragt also auf der einen Seite eines der Medien, die Bilder produzieren, und gemeinsam mit Martin Knauer jene Wissenschaft, die sich ihrer gelegentlich bedient oder sie zumeist unberücksichtigt gelassen hat. Man will wissen, „warum die Phänomene, die als ‘Iconic Turn’ beschrieben werden, vergleichsweise ‘spät’ die Geschichtswissenschaft erreichte.“ (7/8) Dabei richten die Herausgeber ihren Fokus geradewegs auf die universitäre Forschung, und manch einem Kulturwissenschaftler wird einschränkend attestiert, er sei „zwar promovierter Historiker“, aber „nicht in der akademischen Geschichtswissenschaft verankert“ gewesen. (56) Knauer und Jäger – dieser vor allem auch in einem eigenen Beitrag – sehen die Ursache für die Vorbehalte der Historiker vornehmlich in den Abgrenzungsbemühungen gegenüber anderen Fächern, aber auch innerhalb des eigenen Betriebes in der Abwehr von Kollegen, die für eine offenere Haltung gegenüber Bildbelegen plädieren. Allerdings grenzen die beiden Herausgeber selbst ab, indem sie die Verwendung von Bildern in historischen Museen nahezu vollständig ausklammern und Jäger nur eine wenig erfolgreiche Initiative zu einer Diskussion auf Historikerkongressen zwischen den 1930er und 60er Jahren erwähnt. (61/63)
           Mehrfach wird betont, dass es „nie Zeiten gegeben [habe], in denen Bilder keine Rolle im historiografischen Diskurs gespielt“ hätten. (8) Oder an anderer Stelle heißt es: „Grundsätzlich zählten ja Bildwerke [...] immer zu den Zeugnissen der Vergangenheit und waren demnach theoretisch immer auch Gegenstände der Geschichtswissenschaft.“ (46/47) Wegen solcher Einlassungen und trotz mehrerer einleuchtender Begründungen bekommt der Leser den Eindruck, den Herausgebern gehe es nicht unwesentlich darum, ihre Zunft wegen der Versäumnisse in Sachen Bilderverwertung zu verteidigen. Bis auf eine englische Kunsthistorikerin wurden ausschließlich Historiker und Historikerinnen zur Mitwirkung an der Anthologie eingeladen. So doch der Blick von außen, sprich: von Vertretern anderer Disziplinen, möglicherweise zu andersgearteten Einschätzungen gekommen wäre als die praktizierte Innensicht.
           Als verdienstvoll ist anzumerken, dass zwei Beiträge sich den Entwicklungen hinsichtlich der Verwendung von Bildzeugnissen in anderen Ländern widmen. Dana Arnold resümiert die Situation in England, ausgehend von der 1859 erfolgten Gründung der National Portrait Gallery, die mit der „Maßgabe eröffnet“ wurde, „dass sie der Geschichte und nicht der Kunstgeschichte dienen sollte.“ (34) Daniela Kneissl verfolgt die Diskussion um die Etablierung einer „iconographie historique“ seit 1846 (153) und betont die Rolle der Historiker um die Annales, allen voran Marc Bloch und Lucien Febvre, die sie als „wichtige Vordenker für eine vertiefte Beschäftigung mit Bildern als Quelle“ einstuft. (158)
           Lucas Burkart beschreibt die Wandlung des Mediävisten Percy Ernst Schramm, der in den 1920er Jahren unter dem Einfluss von Aby Warburg die Bilder nicht mehr der Kunstgeschichte oder den historischen Hilfswissenschaften überantwortete, sondern sie Schriftquellen gegenüber als gleichwertig ansah, die „diese, wo sie fehlen, sogar ersetzen können.“ (Schramm, 77) Ein Jahrzehnt später entfernte er sich von diesem Verständnis und wandte sich gängigen Praktiken der zeitgenössischen historischen Forschung zu. Martin Knauer hat sich „[d]rei Einzelgänger“ (97) und deren Wirken nach 1945 vorgenommen, nämlich die deutschen Historiker Percy Ernst Schramm, Hartmut Boockmann und Rainer Wohlfeil. Nachgegangen wird den Gründen, weshalb deren teilweise progressiven Ansätze auf keinen fruchtbaren Boden gefallen sind.
           Mit der aktuellen Bildforschung in Deutschland befasst sich Gerhard Paul, dessen Horizont über die akademischen Gefilde hinausreicht und der Ausstellungen und Dokumentationen mit einbezieht. Insbesondere aber weist er auf notwendige neue Wege und fordert, sich „einer historiografischen Bildakt-Forschung zuzuwenden, die die Modalitäten der Bildverwendung aufschlüsselt und Bilder zugleich auch als Bildakte begreift, die selbst wiederum Geschichte generieren, wie dies in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts immer wieder geschehen ist und in der Gegenwart beständig geschieht.“ (135) Eine solche Empfehlung könnten sich die meisten Historiker, die mit Bildern arbeiten, hinter die Ohren schreiben, weil zwar der Entstehung von Werken oftmals in aller Ausführlichkeit nachgegangen wird, jedoch deren Wirkungsgeschichte keine oder nur geringe Aufmerksamkeit erfährt.
           Insgesamt berührt der Band zahlreiche Facetten des Bildgebrauchs und liefert nahezu 30 Seiten mit Literaturangaben. Die Herausgeber wollten auch nicht mehr als für bestimmte „Zusammenhänge sensibilisieren und erste Schneisen schlagen.“ (17) Bilder fanden jedoch keinen Eingang in diese Publikation, was zu bedauern ist, zumal eingangs bekundet wird: „Es bleibt die Frage nach dem möglichen ‘Mehrwert’ historischer Studien, die visuelle Quellen heranziehen.“ (15) Es hätte ein einziger Beitrag mit nur einer Illustration genügt, um exemplarisch Bild und Text gegen- beziehungsweise zueinander zu stellen und ihren jeweiligen wie den gemeinsamen Informationsgehalt darzulegen. So aber ist dieser Frage nicht weiter nachgegangen worden.

 

Erwähnte Literatur
Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers [Apologie pour l’histoire ou Metier d’historien, 1941/42], hrsg. von Lucien Febvre, [Übersetzung nach der 6. Auflage, Paris 1967, von Siegfried Furtenbach, revidiert durch Friedrich J. Lucas], München: Klett Cotta im Deutschen Taschenbuch Verlag, 1985, S. 54
Fotogeschichte, Heft 15, 5. Jg., 1985, Themenheft: „Fotografie als historisches Dokument“
Bruno Fritzsche, „Das Bild als historische Quelle. Über den (Nicht-)Gebrauch von Bildern in der historischen Forschung“, in: Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, hrsg. von Andreas Volk, Zürich: Seismo, 1996, S. 11-14, hier S. 23
Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung, Tübingen: edition diskord, 2000 (Historische Einführungen, Band 7); vgl. auch meine Besprechung in: Rundbrief Fotografie, N.F. 30, 2001, 42-43
Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt, New York: Campus, 2009 (Historische Einführungen, Bd. 7

Dezember 2009

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© Timm Starl 2009

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