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Fotokritik

 

Timm Starl
Kritik als Geschichte

Jörn Glasenapp
Die deutsche Nachkriegsfotografie
Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern
München: Wilhelm Fink, 2008
24,7 x 16 cm, 413 S., 167 S/W-Abb.
Gebunden, Schutzumschlag
€ 49,90

Jörn Glasenapps Texte halte ich für die überzeugendsten Kommentare zur Fotografie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Personen und Produkte werden von ihm nicht isoliert als Erscheinungen eines medialen Kosmos gesehen, sondern abhängig von gesellschaftlichen Prozessen, in denen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur die maßgebenden Elemente darstellen. Er betrachtet die Phänomene ebenso innerhalb des fotografischen Diskurses, den er gut kennt, wie von Standpunkten der Kulturwissenschaften aus, wobei die historischen wie zeitgenössischen Entwicklungen gleichermaßen im Auge behalten werden. Mit Vorliebe geht Glasenapp von einem einzelnen Bild oder einer kleinen Gruppe gleichartiger Aufnahmen aus, um „[v]on der Nah- zur Weit- respektive Übersicht, von der Mikro- zur Makroperspektive“ zu gelangen, wie er es ausdrückt (45). Auf diesem Weg finden zahlreiche Quellen Beachtung, wobei frühere Einschätzungen kritisch beleuchtet werden. Gängige Zuschreibungen werden gegebenenfalls ebenso über Bord geworfen wie Säulenheilige vom Thron gestoßen, jedoch stets begleitet von fundierten Analysen und Begründungen. Dabei zeigt sich manch frühere Wertung als Folge von Vorurteilen, Affirmation, ökonomischen und anderen Interessen oder vielfach auch nur als das Ergebnis mangelnder Recherchen.
           Mit der vorliegenden Publikation hat Glasenapp einige Positionen im Westen Deutschlands nach 1945 aufgegriffen. Vom Titel sollte man sich nicht irritieren lassen, denn das Spektrum reicht von Aufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern bis zu den Inszenierungen eines Juergen Teller ab 1999. Wann soll denn – fragt man sich – die „Nachkriegsfotografie“ enden? Und auch das Attribut „deutsch“ trifft nicht genau, denn die Bilder der Überlebenden und Toten aus Buchenwald und anderswoher stammen von Fotografen und Fotografinnen der Siegermächte, und ein Kapitel ist den erotischen Kreationen des Engländers David Hamilton gewidmet. Wie auch immer, vorgeführt werden vielfältige Formen der Anwendung und des Gebrauchs, der Radius reicht von künstlerisch bis politisch motivierten Ansätzen über Darbietungen von Fotografien in Ausstellungen und Publikationen bis zu den Aktivitäten der Fotowirtschaft. Die Fälle sind exemplarisch, die Arbeit wurde „nicht mit dem Ziel abgefasst [...], dem Leser einen auf Vollständigkeit angelegten Überblick über die fotografische Praxis in Westdeutschland zu geben.“ (44)
           Im einleitenden Teil liefert Glasenapp die „theoretische Fundierung“, wobei er sich in den folgenden Ausführungen vornehmlich auf Roland Barthes und Susan Sontag stützt. Erstaunt hat mich die Kritik an Bernd Busch und Geoffrey Batchen, die die Frage, was Fotografie sei, in ihren Veröffentlichungen von 1989 und 1997 als nicht abgeschlossen ansehen. Was als „ärgerlich“ empfunden werden sollte angesichts der „längst in mehr als hinreichendem Maß erfolgte[n] ‘Wesensbestimmung’ des Mediums“ (41). Nun, wie die Geschichte der Fotografie nicht abgeschlossen ist, weil jeder Autor und jede Epoche jeweils eigene Bestimmungen hervorbringen, so gilt dies gleichermaßen für die Theorie. Zumal jede geschichtliche Setzung immer auch eine theoretische bedeutet, also Glasenapp mit seinen Analysen der historischen Praxis zugleich einen Beitrag zur Theorie der Fotografie liefert. Schon die Auswahl von theoretischen Texten, um die Einschätzung geschichtlicher Gegebenheiten zu begründen, bedeutet ja zugleich die Abkehr von anderen Standpunkten, damit eine kritische Würdigung und demnach eine Fortführung des theoretischen Diskurses. Theorie ist nicht nur, was unter einer solchen Überschrift zu stehen kommt.
           Vielleicht wollte der Autor auch nur betonen, dass es ihm nicht primär um neue Bestimmungen des Fotografischen gegangen ist. Was ihm aber wichtig war, ist die differenzierte Betrachtung von fotografischen Entwicklungen, die Hervorhebung von Gesichtspunkten, die bislang in zeitgenössischen Kritiken und fotogeschichtlichen Analysen vernachlässigt worden oder unbeachtet geblieben sind. Damit entlarvt er manch immer wieder vorgetragene Ansicht als Unsinn, vorschnell oder von diversen Interessen geleitet und eröffnet einen neuen Blick auf diese und jene Arbeit. Man muss nicht jeder Beurteilung Glasenapps folgen, auch wird man manche bildliche und sprachliche Äußerung von beteiligten Zeitgenossen vermissen. „Aber jede Geschichte ist“ immer auch – nach Lucien Febvre – „Wahl“, und wenn sich der Autor für ein Foto, eine Motivgruppe, eine Sichtweise, ein besonderes Ereignis entscheidet, so schließt er andere aus, um pointiert einen bestimmten Sachverhalt zu untersuchen. Beispielsweise geht es ihm bei den Aufnahmen, die 1945 in den befreiten Lagern des Nationalsozialismus und an anderen Schauplätzen entstanden sind, um die „Tendenz zur Gruppierung“ (55), wenn Opfer und Täter, Sieger und Besiegte, Reporter und Bürger, die zur Besichtigung der Leichenberge angehalten worden sind, immer als Kollektive gesehen werden. Dahinter steht die Vorstellung, auf welche Weise in der US-amerikanischen Presse beziehungsweise den von den amerikanischen Besatzern herausgegebenen Berichten und Plakaten der industrielle Massenmord augenscheinlich gemacht werden sollte: als eine Tat, die nicht Einzelne begangen hatten, die von mehr als einem hingenommen wurde, die es mit mehreren Armeen zu bekämpfen galt, zu deren Nachweis eine möglichst große Zahl an Zeugen aufzurufen war.

 

Richard Peter: Rathaus in Dresden (aus: Richard Peter, Dresden – eine Kamera klagt an, Dresden: Dresdener Verlagsgesellschaft, o.J. [1949] Richard Peter: Rathaus in Dresden (aus: Richard Peter, Dresden – eine Kamera klagt an, Dresden: Dresdener Verlagsgesellschaft, o.J. [1949], o.S.)

      

In einem folgenden Abschnitt wird entlang der Trümmerfotografien von Richard Peter, Hermann Claasen und anderen, die nach Kriegsende in Dresden, Köln und weiteren Großstädten entstanden waren, die andere Seite aufgeschlagen. Auch die deutschen Fotografen erhoben anklagend den Finger und zeigten auf die Folgen der alliierten Luftangriffe. Glasenapp identifiziert diese Aufnahmen, die in gedruckter Form erhebliche Verbreitung gefunden haben, als Elemente einer Art Gegenrechnung, die angesichts der Bilder vom Holocaust aufgemacht wurde. Und er subsumiert sie zu Recht unter „fotografischen Revanchismus“ (100).
           In mehreren Abschnitten wird die Ausrichtung von Ausstellungen beleuchtet, so der „photokina“ ab 1950 als Plattform der Fotoindustrie, der von Otto Steinert inszenierten Darbietungen zur „subjektiven Fotografie“ ab 1951, der von Edward Steichen groß angelegten Wanderschau „The Family of Man“ ab 1955 und insbesondere von Karl Paweks „Weltausstellungen der Photographie“ ab 1964. Mit Person und Vorhaben des zuletzt Genannten setzt sich Glasenapp ausführlich auseinander, zitiert aus den theoretischen Schriften des Österreichers und dem Bildmaterial der Ausstellungen, untersucht die zeitgenössischen Reaktionen und findet auf diesem Weg das Eigentliche dieser „Weltausstellungen“, die nicht – wie wiederholt zugeschrieben – bloß als eine Fortsetzung der „Family of Man“ zu verstehen sind, sondern teilweise zu ihr auf Distanz gegangen sind. Trotz eingehender Analyse will der Autor jedoch kein abschließendes Urteil treffen, was ihn von den apodiktischen Behauptungen der meisten medienwissenschaftlichen Kollegen angenehm unterscheidet

 

Hubs Flöter: ohne Titel (aus: Leica Fotografie, Nr. 5, September/Oktober 1951 Hubs Flöter: ohne Titel (aus: Leica Fotografie, Nr. 5, September/Oktober 1951, S. 195)

 

           An anderer Stelle ist sich Glasenapp allerdings recht sicher. So wenn er die konservativen Bildentwürfe der Modefotografie der 1950er Jahre allein darauf zurückführt, dass die führenden Vertreter allesamt bereits in der NS-Zeit aktiv gewesen sind und „von der damals üblichen Bildästhetik im späteren Verlauf ihrer problemlos fortgesetzten Karrieren so gut wie gar nicht abwichen.“ (210) Es fragt sich allerdings, in welchen Ländern es denn in dem Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt progressive Tendenzen in diesem Genre gegeben hat? Und eine neue Linie in der Mode – wie der New Look von Christian Dior, den Glasenapp zuvorderst anführt – verlangt nicht zwangsläufig nach neuen Formen der Wiedergabe. Man denke nur an das Neue Bauen der 1920er Jahre, das weitestgehend in traditionell komponierten Fotografien vermittelt worden ist und nicht durch die Vertreter des Neuen Sehens (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen). Tritt eine Neuheit nicht stärker zutage, wenn sie mit den gewohnten Sehweisen konfrontiert wird?
           In zwei Kapiteln geht es um Fotografien, in denen nackte oder nur spärlich bekleidete Menschen auftreten. In einem Fall sind es die Nuba, die Leni Riefenstahl in den 1960er/70er Jahren im südlichen Sudan fotografiert und zu denen sie eine Auswahl in zwei Büchern veröffentlicht hat. Im anderen handelt es sich um die jungen Mädchen, die David Hamilton mit piktorialistischer Unschärfe in ruhenden und masturbierenden Posen inszeniert hat und dessen Publikationen und Filme ihn zum „kommerziell sicher erfolgreichste[n] Fotografen der Dekade“ (290) werden ließen. Beide Texte gehen über den Tenor der kritischen Stimmen, die sich seit den 1970er Jahren meldeten, nicht hinaus, und Susan Sontags Verdikt zu Riefenstahls Bildprodukten, „dass die Bilder unmittelbar an ihre Nazi-Arbeiten anschließen“ (Sontag 1981) steht für Glasenapp außer Frage. Doch er begnügt sich nicht mit den bekannten einschlägigen Zuweisungen, sondern bringt zahlreiche Texte ein und stellt die enthaltenen Argumente gegeneinander, ebenso affirmative wie solche, die auf Distanz gehen, zustimmende wie ablehnende. Das breitere Fundament der Auseinandersetzungen von ehemals – das gilt auch für die Arbeiten Hamiltons – erlaubt nicht nur ein qualifiziertes Urteil der Werke, sondern legt auch die Wirkungsgeschichte offen, die in den Betrachtungen zu historischem Bildveröffentlichungen meist fehlt.
           „Der Einzug der Fotografie ins Museum“, wie ein weiteres Kapitel betitelt ist, findet allerdings erst im letzten Satz statt. Dort heißt es zu den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher, dass sie erst bei entsprechender Hängung „an den Museums- und Galeriewänden“ ihr Potential entfalten würden, doch: „Etwas Substantielles zu sagen haben sie uns deswegen allerdings noch lange nicht.“ (351) Der Erfolg der Becherschen Serien – wäre ergänzend anzumerken – liegt eben darin, dass sie nichtssagend sind und damit für alles Mögliche in Anspruch genommen werden können: Sie passen in jede Ausstellung und in jede Anthologie, ob es in diesen um Serialität, Konzeptkunst, Dokumentation, Sachlichkeit, Architektur geht.
           Die voran stehenden Betrachtungen in diesem Abschnitt befassen sich mit den Köln-Porträts von Chargesheimer, den dokumentaristischen Hervorbringungen der sogenannten Autorenfotografen der 1970er/80er Jahre, den intervenierenden Landschaftsstudien von Martin Manz und Reinhard Matz, und erst zuletzt wird auf die typologisierenden Arbeiten zur Industriearchitektur der Bechers eingegangen. Deren monotone Ausschnitte von Förder- und Wassertürmen, Hochöfen und Gasbehältern, aufgenommen ab den ausgehenden 1960er Jahren, wird attestiert, sie vermögen nicht mehr zu zeigen als die Ähnlichkeit von Bauwerken mit gleicher Funktion. Hinter der Voranstellung der Formen werde aber das Funktionelle verborgen, wozu beispielsweise auch gehört, inwieweit denn die technischen Gegebenheiten die Arbeiten, die in ihrem Radius ausgeübt werden, strukturiert haben und es noch tun. Der Blick auf historische Bauten und die Herausstellung des Gleichen kann wie im Fall des Becherschen Werkes durchaus „ahistorisch“ sein, wie Glasenapp richtig feststellt (350).

 

Bernd und Hilla Becher: Gasbehälter, 1983–1998
Bernd und Hilla Becher: Gasbehälter, 1983–1998 (aus: Klaus Honnef, Gabriele Honnef-Harling,
Von Körpern und anderen Dingen. Deutsche Fotografie im 20. Jahrhundert
,
Ausstellungskatalog Galerie der Hauptstadt Prag, o.O.: Edition Braus, 2003, S. 157)

 

           Es verhält sich wie bei allen Arbeiten zur Geschichte: Hebt ein Historiker darauf ab, nur nach Fakten vorzugehen und diese sprechen zu lassen, anerkennt aber nicht den subjektiven Faktor und reflektiert, dass seine Auswahl und Einordnung einen individuellen Entwurf abgibt, desto mehr wird er sich an der Oberfläche bewegen und die Erscheinungen nur mechanistisch nebeneinanderstellen können. Damit aber wird nicht mehr als der Vordergrund der Gegebenheiten sichtbar, und es bleiben die relevanten geschichtlichen Zusammenhänge verborgen. Glasenapps Buch muss nicht nur als der aufschlussreichste Beitrag zur Fotografie nach 1945 in Westdeutschland angesehen werden, sondern es wird auch deutlich gemacht, wie mit Geschichte umzugehen und wie sie darzustellen ist.

Erwähnte Literatur
Geoffrey Batchen, Burning with Desire: The Conception of Photography, Cambridge, Mass.: The MIT Press, 1997
Bernd Busch, Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, München: Hanser, 1989
Lucien Febvre, „Ein Historiker prüft sein Gewissen. Antrittsvorlesung am Collège de France 1933“, in: ders., Das Gewissen des Historikers, hrsg. und aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff, Berlin: Klaus Wagenbach, 1988, S. 9-22, hier S. 13.
Leni Riefenstahl, Die Nuba. Menschen wie von einem anderen Stern, München: Paul List, 1973
Leni Riefenstahl, Die Nuba von Kau, München: Paul List, 1976
Susan Sontag, „Faszinierender Faschismus“ [1974], in: dies., Im Zeichen des Saturn, Aus dem Amerikanischen von Werner Fuld u.a., München, Wien: Carl Hanser, 1981, S. 95-124, hier S. 106

Oktober 2009

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© Timm Starl 2009

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