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Fotokritik

 

Timm Starl
Wissenschaft im Bild

Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hrsg.)
Frosch und Frankenstein
Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft
Bielefeld: transcript, 2009
22,5 x 13,3 cm, 459 S., 72 Abb. in Farbe und Schwarzweiß
Broschiert
€ 32,80

Die Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft von Hans Joachim Störig aus dem Jahr 1954 wandte sich nicht an Wissenschaftler, sondern wollte ein breites Publikum über das Aufkommen und die Entwicklung der diversen Disziplinen informieren. Die auf beinahe 800 Seiten angelegte Darstellung geht nach einer „methodischen Einleitung“ chronologisch vor, innerhalb der Zeitabschnitte und Kulturen nach Fächern, innerhalb dieser nach Spezialgebieten oder den wesentlichen Protagonisten. Die Ausführungen enden mit dem Ersten Weltkrieg, also dem 19. Jahrhundert, dessen Vorstellungen von Wissenschaft und deren Geschichte sie in mehrfacher Hinsicht verpflichtet sind. Das 19. Jahrhundert selbst wird in zwei Kapiteln abgehandelt: Natur- und Geisteswissenschaften, wobei die Kunstgeschichte keinen Platz gefunden hat. (Die Fotografie erfährt lediglich als „Hilfsmittel“ der Astronomie auf einer halben Seite Erwähnung.) Das Buch kommt ohne Illustrationen aus.
           Dem steht heute – vertauscht man die Akteure und Objekte – ein Kunst- und Museumsbetrieb gegenüber, der in den beiden vergangenen Jahrzehnten das fotografische Wissenschaftsbild für sich entdeckt hat. Allerdings verdankt sich dessen Publizierung in Ausstellungen und begleitenden Katalogen nicht dem Interesse am Bildgegenstand, sondern der Erweiterung des Bildermarktes. Was sich nicht zuletzt darin offenbart, dass die Auswahl der Bilder allein nach ästhetischen Kriterien erfolgt, gelegentlich noch nach der Frage, ob es sich um die früheste Aufnahme in dem jeweiligen Wissenschaftsfeld handelt.
           Der vorliegende Band bringt ein gutes Beispiel, das die engsichtige Praxis einer Fotohistoriografie bloßlegt, die zumeist nicht über die selbst gewählten Grenzen des Mediums hinauszusehen imstande ist. Am 5. September 1886 veröffentlichte Le Journal illustré zwölf Abbildungen nach Aufnahmen von Paul Nadar, die während eines Interviews mit dem hundertjährigen Chemiker Eugène Chevreul, das der Vater Félix Nadar geführt hatte, entstanden waren. Die Bildfolge wird in den Übersichtsdarstellungen zur Fotografiegeschichte – wie beispielsweise bei Gernsheim und Frizot – unter der Rubrik Pressefotografie behandelt, als anschauliches Beispiel der Momentfotografie angeführt und als erstes „Photo-Interview“ gewertet.

 

Paul Nadar: Félix Nadar interviewt Eugène Chevreul, an dessen hundertstem Geburtsgag, 31. August 1886 Paul Nadar: Félix Nadar interviewt Eugène Chevreul, an dessen hundertstem Geburtsgag, 31. August 1886 (aus: Nouvelle Histoire de la Photographie, Sous la direction de Michel Frizot, Paris: Adam Biro/Bordas, 1994, S. 362)

 

           Charlotte Bigg unterschlägt in ihrem Aufsatz „Der Wissenschaftler als öffentliche Persönlichkeit. Die Wissenschaft der Intimität im Nadar-Chevreul-Interview (1886)“ die fotografiespezifischen Gegebenheiten nicht, spricht jedoch weitere Gesichtspunkte an und schafft ein wesentlich breiteres Fundament zur Bewertung der Fotoserie. Sie fragt eingangs nach den Beweggründen der französischen Regierung, eine landesweite Feier für den Jubilar stattfinden zu lassen und ortet diese im Bedürfnis nach nationaler Selbstdarstellung in Folge des verlorenen deutsch-französischen Krieges. Angesprochen wird das Aufkommen von Interviews als Informationsmittel und die Situation der Pariser Presse in den 1880er Jahren. Als Abbildungen enthalten sind nicht nur das Gros der seinerzeit veröffentlichen Bilder, sondern auch weitere aus dem Fundus der gut 80 entstandenen Aufnahmen und eine grafische Darstellung des Chemikers aus einer anderen illustrierten Zeitung. Auch wenn die Autorin die erwähnten Punkte und mehrere zusätzliche oft nur streift, entwickelt sie gleichwohl ein Netz von Beziehungen, das eine Einschätzung des Interviews über seine medien- und fotogeschichtliche Bedeutung hinaus zulässt.
           Noch ein weiterer Text beschäftigt sich mit einer fotohistorischen Thematik: Dorit Müller untersucht die „Fotografie und Südpolarforschung um 1900“ entlang von Berichten und Aufnahmen zu einer deutschen Expedition in den Jahren 1901 bis 1903. Erkannt wird unter anderem, dass weniger fotografische Abbildungen von Forschungsgegenständen als von Teilnehmern in die Buchveröffentlichungen eingegangen sind und damit den Erwartungen einer nichtwissenschaftlichen Leserschaft entsprochen wurde. Beide Aufsätze beschäftigen sich mit der Veröffentlichung von Bildern der Wissenschaft, einmal vorgenommen von einem Nichtwissenschaftler (Nadar), der eine bekannte Person in Bild und Text porträtiert, das andere Mal von einen Physiker und Mathematiker, der die Bilddokumentation zu einem Vorhaben der Antarktisforschung in einer populären Reisebeschreibung verwendet.
           Auffallend ist, dass Dorit Müller auf einschlägige fotohistorische Literatur verzichtet und nahezu ausschließlich aus den Aufzeichnungen und der Korrespondenz der Expeditionsteilnehmer schöpft. Angeführt werden – wie auch von den meisten anderen Autoren und Autorinnen, so sie sich mit fotografischen Wissenschaftsbildern auseinandersetzen – immer wieder die 2002 von Peter Geimer herausgegebenen Ordnungen der Sichtbarkeit, obwohl diese Anthologie nicht mehr als einen Beitrag enthält, der auf einer breiteren fotogeschichtlichen Grundlage argumentiert. Man könnte beinahe mutmaßen, dass der Untertitel des Bandes „Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie“ dafür steht, dass Herausgeber und Mitarbeiter immer wieder auf diese Veröffentlichung gestoßen sind. Dabei wurde übersehen, dass Herta Wolf, Professorin für Geschichte und Theorie der Fotografie an der Universität Duisburg-Essen, bereits in den beginnenden 1990er Jahren darauf beharrt hat, dass Fotografiegeschichte nur im Kontext der Wissenschaftsgeschichte eine adäquate Behandlung erfahren kann. Und sie hat unter anderem in Beiträgen zur Anwendung der Fotografie in der Meteorologie, Astronomie und anderen Bereichen anschaulich praktiziert, wie eine solche Geschichtsschreibung anzulegen ist.
           Ich habe die beiden kurzen Abhandlungen zu fotografischen Themen vorgestellt, obwohl sie nur einen Teil des Spektrums abdecken, das sich die Herausgeber vorgenommen haben, aber nahezu alle Aspekte des Themas zumindest ansatzweise streifen. Die Aufsätze weiterer elf Autoren und Autorinnen behandeln andere Bildmotive in diversen Disziplinen sowie aktuelle Gebrauchsweisen in verschiedenen Medien, vom „Frosch im wissenschaftlichen Bild“ (Bernd Hüppauf) bis zu „Frankenstein in Entenhausen?“ (Peter Weingart), von der Presse bis zum Film, vom Comic bis zum Internet.
           Der einleitende Teil liefert mit fünf Texten einen Überblick zur Theorie und Geschichte der Wissenschaftsbilder und ihrer Popularisierung, wobei der Schwerpunkt bei theoretischen Überlegungen liegt. Den Forschungsstand skizzieren die Herausgeber und grenzen das Thema inhaltlich und zeitlich ab. Nicht recht verständlich wird, warum der Anfang mit den 1880er Jahren gesetzt wird, wenn es beispielsweise heißt: „Nachdem technische Probleme der Reproduktion um 1890 gelöst waren [...]“ (23), oder an anderer Stelle: „[...] ein besonderes Genre bildeten seit dem späten 19. Jahrhundert die Diavorträge [...]“ (15) Diese nahmen ihren Anfang jedoch – zumindest im Bereich der Kunstgeschichte – bereits in den 1870er Jahren. Zu denken wäre auch an die Sammelbilder mit Porträts von Wissenschaftlern, die ab den 1860er Jahren in Umlauf kamen. Ein Jahrzehnt früher datieren erste fotografische Bestandsaufnahmen von Museumssammlungen, die in Mappen und Einzelbildern vertrieben wurden. Nicht zu reden von Journalen wie dem Pfennig-Magazin, das breite Bevölkerungsschichten ansprach, von den 1830er Jahren an regelmäßig Berichte zu den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen veröffentlichte und diese vielfach mit Abbildungen nach grafischen Vorlagen illustrierte.
           Doch man steht am Anfang, und insofern liefert die Publikation mit einigen anregenden Ansätzen einen moderaten Ausgangspunkt zu weiteren Untersuchungen zum Bild und den Bildern der Wissenschaft. Und die Herausgeber räumen ein: „Dieses Buch stellt mehr Fragen zur Rolle der Wissenschaftsbilder und in der Öffentlichkeit, zu ihrem Wandel und den Übergängen zur Kunst und zu den populären Bildern, als dass es Antworten gäbe.“ (35) Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass weniger sparsam mit Illustrationen umgegangen und – es geht ja um Bildmedien – mehr mit Bildern argumentiert wird. Die vorliegende Zusammenstellung mag allerdings nicht nur jene Wissenschaftshistoriker interessieren, die bislang der Bildgeschichte keine Beachtung geschenkt haben, sondern auch die Vertreter von Disziplinen, die mit Bildmaterial – welcher Art auch immer – arbeiten.

Erwähnte Literatur
Michel Frizot, „Das Interview mit Chevreul“, in: Neue Geschichte der Fotografie, hrsg. von Michel Frizot, Köln: Könemann, 1998, S. 362Helmut Gernsheim, „Die Pressefotografie“, in: ders., Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Propyläen, 1983 (Propyläen Kunstgeschichte, Sonderband III), S. 641-645, hier S. 642
Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie,
hrsg. von Peter Geimer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 (stw 1538)
Das Pfennig-Magazin der Gesellschaft für Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse, Leipzig 1833 ff.
Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1954

Juni 2009

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© Timm Starl 2009

PDF - 855kb

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