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Fotokritik

 

Timm Starl
Der Finger des Historikers
Zur Gewalt gegen Zivilisten im Ersten Weltkrieg

Anton Holzer
Das Lächeln der Henker
Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914 – 1918
Darmstadt: Primus, 2008
29,5 x 22,3 cm, 208 S., 115 SW-Abbildungen
Gebunden, Schutzumschlag
€ 39,90, SFR 67,-

Am 17. November 1915 hält Franz Grainer während einer Sitzung des Süddeutschen Photographen-Vereins im großen Festsaal des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins in München einen Vortrag über „Die deutsche Photographie in den Kriegsjahren 1914/15“. Der bekannte deutsche Fotograf wagt eine Prophezeiung: „Wenn einmal die Geschichte des Krieges geschrieben wird, wird die Kriegsphotographie in jeder Art unschätzbar und historisch wertvoll sein.“ Die Voraussage wird eintreffen, auch wenn der Redner wohl in erster Linie an Produkte der von den militärischen Stellen zugelassenen Lichtbildner und nicht an die Bilder der knipsenden Soldaten und Offiziere gedacht hat. Auch ist ihm sicherlich eine siegreiche Armee vorgeschwebt, und er hat in deren Gefolge Fotografien erwartet, die von heroischen Siegen berichten. Wogegen ihm kaum Aufnahmen von Gewaltakten gegen die Zivilbevölkerung in den Sinn gekommen sind.
           Eben dieses Themas hat sich Anton Holzer angenommen, dem der Gebrauch der Fotografie im Ersten Weltkrieg seit beinahe einem Jahrzehnt immer wieder Anlass zu Nachforschungen gegeben hat. In all seinen Veröffentlichungen wird in kleineren oder größeren Abschnitten auf die Gewalt gegen Zivilisten eingegangen, oder diese steht ohnehin im Zentrum der Betrachtungen. Auch wenn ein Großteil der Überlegungen und Argumente von Holzer bereits angesprochen und etwa ein Drittel des jetzt verwendeten Bildmaterials, das Erschießungen oder Erhängungen zum Gegenstand hat, bereits früher vorgelegt worden ist, war die Zusammenfassung im vorliegenden Band notwendig. Denn erstmals liegt eine einschlägige Untersuchung in einer selbständigen Publikation vor, angestellt für die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee in Ost- und Südosteuropa. Es geht vermutlich um „mehr als 30.000“ ermordete Zivilisten (74) an und hinter der Front sowie eine Aktion in Trient.
           Diese Zahl steht in seltsamer Koinzidenz zu den „30.000 Aufnahmen, die das k.u.k. Kriegspressequartier, die Propagandaeinrichtung des österreichisch-ungarischen Heeres, zusammengetragen hatte“, worunter sich jedoch „kein einziges Foto [befindet], das dem ‘anständigen' Image der eigenen Armee widerspricht.“ (9) Diese einseitige Ausrichtung eines Bestandes, der sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek befindet, hält Holzer für einen der Gründe, weshalb sich Historiker für diesen Teil der Kriegsgeschichte bislang nicht interessiert haben. Auf gezielte Nachfrage fanden sich jedoch einzelne Bilddokumente in deutschen und österreichischen Archiven, vor allem aber in öffentlichen Sammlungen jener Staaten der ehemaligen k.u.k. Monarchie, in denen die Gewaltakten stattgefunden haben, sowie in einer Schweizer Privatsammlung. Der Weg zu den Bildquellen war also mühsam, und Holzer betont auch die schwierige und aufwendige Recherche (11). Angesichts der Aufnahmen der Hinrichtungsstätten, von denen etwas über 70 Eingang in das Buch gefunden haben, stellt der Autor die Frage: „Kann man, darf man derartige Bilder zeigen? Oder sollte man sie weiterhin unter Verschluss halten?“ (14) Und er gelangt zu demselben Schluss wie 1924 Ernst Friedrich, der in seinem Pamphlet Krieg dem Kriege zahlreiche Fotos von Exekutionen, Toten und Verstümmelten versammelt hat, dass nämlich die Bilder selbstverständlich veröffentlicht werden müssen.
           Allerdings, so Holzer, sei es „notwendig, den breiteren historischen und militärischen Kontext, in dem diese Ereignisse stehen, zu rekonstruieren.“ Außerdem erachte er es als „sinnvoll, nicht nur die Inhalte der Bilder, sondern auch ihre Handhabung, ihren sozialen Gebrauch und ihre private und öffentliche Wahrnehmung – während des Krieges und danach – zu untersuchen.“ (14) Diesen Forderungen wird in den folgenden 15 Kapiteln durchaus entsprochen, zeichnet doch ein solch umfassender Anspruch eine Fotohistoriografie aus, wie sie heute nicht anders verstanden werden sollte. Nicht zuletzt müsse man „die Bilder sehr genau [...] betrachten“ (15). Dieser Mühe unterzieht sich Holzer allenthalben, zählt mehr als einmal ausführlich auf, was zu sehen ist, wobei die sorgsame Registrierung nicht zwangsläufig zu den rechten Schlussfolgerungen führen muss. In einer Hinsicht wurde etwas übersehen. Obwohl in manchen Bildern Priester bei Hinrichtungen zugegen sind, die ‘Delinquenten' begleiten (82) und die Leichen der Opfer segnen (16), wird der Rolle der Kirche keine Bedeutung zugemessen.
           Besonders die immer wieder aufgeworfene Fragen „Weshalb wurde an den Orten der Hinrichtungen so manisch fotografiert?“ (14, ähnlich 95, 166) und was die zahlreichen Schaulustigen bewegt habe, bei den Vollstreckungen dabei zu sein, finden ihre Antwort auch – und meines Erachtens wesentlich – in der Gewissheit, ein Ereignis zu verfolgen, das von kirchlicher Seite mitgetragen wird. Mit der Mitwirkung eines Feldgeistlichen sanktioniert gewissermaßen eine moralische Instanz ebenso das Tun des Henkers wie die Anwesenheit der beteiligten, fotografierenden und zuschauenden Personen. Wenn dieser der gesamten Prozedur beiwohnt und seinen Teil beiträgt, muss das öffentliche „Spektakel des Todes“ (169) als ein zulässiges erscheinen, dem ohne schlechtes Gewissen zugesehen, das fotografiert und dessen bildliche Wiedergabe später betrachtet werden kann. Sieht man einmal davon ab, dass „[d]as Schauspiel der Gewalt [...] auch ein sexuelles Schauspiel“ ist (98) und entsprechend Lust verschafft, was an mehreren Stellen des Buches überzeugend dargelegt wird. Und dass die Hinrichtung eines Spions, Deserteurs oder Verräters, als welche die Zivilisten offiziell zumeist bezeichnet worden sind, immer auch das Gefühl vermittelt hat, über den Feind zu triumphieren und das eigene Überleben ein weiteres Mal gesichert zu haben.
           Nimmt man die Beteiligung der Kirche aus und lässt außer Acht, dass die Beweggründe der Fotografen nicht berücksichtigt werden konnten, weil fast ausschließlich mit Fotomaterial unbekannter Herkunft gearbeitet werden musste, hat Holzer meines Erachtens keinen wesentlichen Aspekt unbeachtet gelassen, der zum Verständnis der Fotos beitragen kann. Seine Vorgangsweise verlangt dies auch, denn „[d]ie Fotografien bilden das tragende Gerüst dieses Buches. Die historische Rekonstruktion entstand entlang der Bilder und in Auseinandersetzung mit ihnen.“ (15) Allerdings ließen sich die Bilder nicht nach inhaltlichen, zeitlichen oder geografischen Kriterien ordnen, weil – wie gesagt – die entsprechenden identifizierenden Angaben jeweils nicht vorlagen. Von den gut 70 Darstellungen von Hinrichtungen sind nur in fünf Fällen die Bildautoren genannt, in etwa einem Viertel ist das Aufnahmedatum fraglich oder nicht bekannt, für beinahe die Hälfte konnte keine oder nur eine ungefähre Zuweisung – wie beispielsweise „Ostfront“ – erfolgen, wo die Aufnahme entstanden ist. Die Bilder waren also nur zum Sprechen zu bringen, indem man Fragen an sie richtete, die sich aus diversen Schriftstücken ergeben haben. Doch auch diesbezüglich ist „[d]ie historische Quellenlage“ bei manchen Themenkomplexen „ äußerst dünn.“ (97) Demgemäß kann „kein bruchloses Bild der Ereignisse entstehen“, und Holzer verzichtet auch ausdrücklich darauf (15).

 

Fotoatelier Matthias Seebauer „Hinrichtung von Zivilisten, vermutlich in Ostgalizien, wahrscheinlich im Winter 1914/15, Fotopostkarte, hergestellt und vertrieben vom Fotoatelier Matthias Seebauer, Wien“ (aus dem besprochenen Band, S. 66)

 

           Die Misere der teilweise fehlenden oder unzureichend gekennzeichneten Quellen begegnet er mit der Wahl einer Methode der Analyse und Darstellung, die mit punktuellen Zugriffen gleichwohl fast alle Facetten des Problems aufgreift oder zumindest berührt. Vorgegangen wird nach der Art der Montage beziehungsweise Collage, indem Splitter von textlichen und bildlichen Informationen zusammengefügt und dieserart Gegebenheiten dargestellt und kommentiert werden. In Karl Kraus hat sich ein Vorgänger gefunden, in dem Drama Die letzten Tage der Menschheit von 1922 ein Werk, bei welchem auf diese Weise verfahren worden ist. Zwar sei „[d]ie gewaltige Ausschnittsammlung über den Krieg [...] unbestreitbar das Werk eines Schriftstellers. Dennoch macht es Sinn, die Arbeitsweise von Karl Kraus als Historiker genauer zu betrachten“ und einzelne, im Stück ohne Angaben zur Provenienz dargebotene „Szenen wieder konkreten historischen Ereignissen zuzuordnen. Ein solches Vorhaben ist alles andere als einfach“ (31), doch es fanden sich entsprechende Vorlagen in der zeitgenössischen Presse, die der Dramatiker nahezu wörtlich übernommen hatte.
           So verfährt auch Anton Holzer nach diesem Modus der Montage, der erlaubt, unidentifizierte Fotografien – seien es Originalabzüge, Reproduktionen oder gedruckte Wiedergaben – unter anderem neben Parlamentsreden oder militärische Erlässe zu stellen. Es kommt eine Reihe weiterer Schriftsteller zu Wort – so Joseph Roth und Egon Erwin Kisch –, es wird aus Romanen, Tagebuchnotizen und Presseartikel zitiert, einzelne Pogrome, über die ausreichend Aufzeichnungen vorliegen, werden näher untersucht, eine zufällig aufgetauchte „Fotoschachtel aus der Schweiz“ mit Bildern von Hinrichtungen tschechischer Legionäre und antiösterreichischen Bildunterschriften, wird aufmerksam durchforstet (36 bis 43). All diese Dokumente vereinen sich zu einem vielfältigen Bild, das den „systematischen Krieg gegen die Zivilbevölkerung“ (19), der vom österreichisch-ungarischen Militär nach Vorgabe oder Duldung der höchsten Stellen geführt worden ist, anschaulich werden lässt.
            Dass es bei einer solchen Montagetechnik, die ja keine Chronologie kennt, zu häufigen Wiederholungen kommt, ist unausweichlich. Sie mögen manche Leser irritieren, haben aber den Vorteil, dass eine unabhängige Lektüre einzelner Kapitel in größeren zeitlichen Abständen möglich ist, ohne dass die davor liegenden Ausführungen noch geläufig sein müssen. Schnittstellen, die auf fehlende Quellen zurückzuführen sind, oder wenn aus anderen Gründen eine lineare Vorgangsweise nicht möglich ist, bewältigt Holzer auf elegante Weise. Er flicht eine oder mehrere Fragen, meist rhetorischer Art, ein und schlägt damit eine Brücke zwischen verschiedenen Gesichtspunkten. Ohnehin legt er großen Wert auf eine eingängige Diktion und eine flüssige Erzählform, was nicht allzu vielen historischen Abhandlungen eigen ist und die das Lesen angenehm macht. Zugleich scheut Holzer aber nicht, die Vorkommnisse ebenso aus gebotener Distanz zu betrachten, wie ihnen ganz nahe zu kommen und seiner Abscheu mit dem Vokabular der Moral Ausdruck zu verleihen. So werden unter anderem Geschehnisse als „beschämende“ (12), die Schaulust als „abgründig“ (10) oder Bilder als „erschreckende“ (13, 166) klassifiziert. Wir haben es demnach mit einem Historiker zu tun, der – um es metaphorisch auszudrücken – nicht nur den Finger auf vergangene Erscheinungen legt, sondern diesen auch von Mal zu Mal mahnend erhebt.
           Über die Formulierung wird jedoch an keiner Stelle vom Konzept abgewichen, werden wesentliche Blickwinkel nicht aufgegeben oder manches nur flüchtig behandelt. Ganz im Gegenteil: Sehr ausführlich widmet sich Holzer der Frage „Schaulust, Sexualität und Gewalt“ (86 bis 101), ferner den nach Ende des Krieges einer größeren Öffentlichkeit bekannt gewordenen, aber nicht geahndeten Verbrechen (133 bis 144) und nicht zuletzt dem Umgang mit den Bildern von Seiten der Besitzer wie auch der Publizisten, die sich ihrer in den 1920er und 30er Jahren bedient haben. Der Bogen wird weit gespannt, bis in unsere Tage und zu den Fotos von Abu Ghraib und zu der Frage, was diese Fotografien mit jenen aus dem Ersten Weltkrieg verbindet. Es ist die „Lust an der Gewalt“ (178), lautet der lakonische Befund.

Erwähnte Bücher und Texte

„Die deutsche Photographie in den Kriegsjahren 1914/15. Vortrag gehalten von Franz Grainer vor dem ‘Süddeutschen Photographen-Verein' in dessen Sitzung am 17. November 1915 im grossen Festsaal des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins in München“, in: Photographische Kunst. Halb-Monatsschrift für künstlerische Fach-Photographie, München, 1915/16, S. 171-176, hier S. 173.
Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege! Guerre a la guerre! War against war! Oorlog aan den oorlog!, 2 Bde., Berlin: Freie Jugend, 1924; Nachdruck u.a.: Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1980, S. 8: „Und kommt auch nicht und sagt: ‘Wie schrecklich, dass man solche Bilder zeigt!'“
Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Dialog, Wien, Leipzig: Die Fackel, 1922

Februar 2009

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© Timm Starl 2009

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