Fotokritik |
Timm Starl
Reisen im Museum
Ausstellung
„Zauber der Ferne. Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert“
Wien, Wien Museum Karlsplatz, 4. Dezember 2008 – 29. März 2009
Katalog
Zauber der Ferne
Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert
hrsg. von Ursula Storch
Ausstellungskatalog Wien Museum
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2008
30,5 x 22,2 cm, 255 S., 163 Abb. in Farbe
Gebunden
€ 27,-
In seinen Mythen des Alltags beschreibt Roland Barthes die Luft- und Raumschiffe in den Romanen von Jules Verne als mobile Wohnungen: „Alle Schiffe von Jules Verne sind vollkommene ‘häusliche Herde', und die Weite ihrer Reisen steigert noch das Glück der Abgeschlossenheit [...]“ Die Helden – und mit ihnen die Leser – brechen auf in unbekannte Welten, ohne auf die vertraute Atmosphäre verzichten zu müssen. Nicht anders verhält es sich für die Leser der Reiseprospekte von heute, denen für das Hotelzimmer am Urlaubsort die gewohnte Einrichtung versprochen wird. Zu dem Komfort, der von zu Hause geläufig ist, zählen das Fernsehgerät und der Empfang der heimischen Sender, so dass auch während des Aufenthalts die Geschehnisse der Welt vom Lehnstuhl aus konsumiert werden können. So bricht zwar der Tourist zu immer neuen Reisezielen auf, braucht aber auf die übliche Umgebung, bei der sich der immergleiche Horizont eröffnet, nicht zu verzichten. Ob auf imaginärer oder tatsächlicher Reise unterwegs, vermag er das Fremde nur aus der räumlichen „Einschließung“ (Barthes) aus wahrzunehmen.
Eine Auseinandersetzung mit den „imaginären Reisen im 19. Jahrhundert“ muss demnach nicht nur die Objekte und Mittel, an denen sich die Sehnsüchte entwickeln, im Auge haben, sondern auch den Blick des Zeitgenossen zurück verfolgen. Zu fragen ist nach den Standorten, an denen er sich befindet, wenn ihn die Phantasie zu Exkursionen in die Ferne aufbrechen lässt. Diese Ausgangspunkte sind sozial wie räumlich determiniert. Weil sich der weitaus größte Teil der Bevölkerung Fahrten in weit entfernte Gegenden nicht leisten konnte, waren die daheim Gebliebenen auf Bilder angewiesen, deren Mobilität die eigene Gebundenheit ersetzte. Unbewegt, doch nicht ohne innere Bewegung, verfolgten sie die Ansichten der Ferne, die ihnen vorgesetzt wurden: vom Sessel in den eigenen vier Wänden aus, auf der Plattform eines Panoramas stehend, eine illustrierte Zeitung in Händen haltend, einer Vorführung im Theater beiwohnend, durch die Gucklöcher eines optischen Gerätes blickend. Zu fragen wäre auch nach den Interessen, die hinter den Produzenten und Vermittlern der Bilder und Veranstaltungen standen, und nicht nur welches Bild von der Welt gezeigt, sondern auch welches vorenthalten worden ist.
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Puzzle mit Eisbären und Robbenjagd, um 1850
(S. 58) |
Plakat für die Italienischen Staatsbahnen, um 1910
(S. 62) |
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Solch differenzierte Ansätze haben sich Ausstellung und Katalog des Wien Museums nicht angelegen sein lassen. Vielmehr ging es der Kuratorin Ursula Storch in erster Linie um das Aufzeigen des breiten Spektrums an Materialien, mit denen die Menschen jener Jahre zu gedanklichen Ausflügen in unbekannte Regionen animiert wurden. Eine Gliederung erfolgte teils nach Medien, teils nach den Schauplätzen, an denen diese eingesetzt wurden: Guckkasten, Laterna magica, Panorama, Diorama, Zimmerreisen, Ausstellungen, Künstlerfest, Tanzsaal, Panoptikum, Vergnügungspark, Tier- und Menschenschau, Film. Gleichrangig vorgeführt werden nach- und nebeneinander Plakate, Eintrittskarten, Modelle, Entwürfe zu Theaterdekorationen, Programmhefte, Zinnfiguren, Kartenpiele, Fotografien, Schaukästen, Dias, Lichtdrucke, Bücher, Projektoren, Papiertheater und anderes mehr. Die etwa 370 Exponate und 100 Projektionsbilder sind unterschiedslos aneinander gereiht, ob sie etwas angekündigt, zur Anwesenheit berechtigt, Ansichten malerisch umgesetzt oder fotografisch festgehalten, Objekte der Schaulust oder Reproduktionen derselben dargestellt haben. Die Ausstellung huldigt der positivistischen Ausrichtung von Museen des 19. Jahrhunderts.
Zeitliche Zäsuren werden nicht gesetzt, als unterschieden sich die Sehnsüchte des ersten Jahrhundertdrittels nicht von jenen des Fin die siècle. Als hätten um 1900 nicht immer mehr Menschen reisen können; seien inzwischen und überwiegend nicht Bilder fotografischen Ursprungs, also Wiedergaben des Realen, kursiert und hätten die Vorstellungen der Fremde bestimmt; bedurfte es nicht immer mehr des ‘Originals', um Publikum zu gewinnen, das sich nicht mehr nur mit originalen Ansichten begnügte. Ein Beispiel macht den Wandel deutlich: Im Oktober 1839 konnte man„Venedig in Wien“ als Modell bestaunen, was begeisterte Kommentare in der Presse zur Folge hatte: „In der That, man glaubt sich durch Zaubermacht versetzt, inmitten der herrlichen, unvergleichlichen Meeresstadt [...]“1895 bedurfte es der Nachbauten von Palästen und Lokalen, Brücken und Kanälen, auf denen Gondeln verkehrten, um eine entsprechende Entrückung bei den Besuchern des Vergnügungsparks im Wiener Prater hervorzurufen.
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Verlag Karl Schwidernoch: „Gruß vom Meeresgrund. Wien-Prater No. 80“, Postkarte, 1899
(S. 161) |
Fritz Luckhardt: Gondelfahrt in „Venedig in Wien“, 1895
(S. 173) |
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Auch die Völkerschauen, die ab den 1870er Jahren in umfangreichen Tourneen organisiert wurden, entsprachen den neuen Bedürfnissen, die auf mehr Authentizität ausgerichtet waren. Auf demselben Terrain operierten die volks- und völkerkundlichen Museen, die jedoch ebenso wenig Erwähnung finden, wie Reiseführer in der Ausstellung nicht gezeigt und im Katalog nicht behandelt werden. Obgleich sie doch am Anfang jeder Reise stehen: Bevor die Stadt, das Gebäude, die Gegend besichtigt wird, liest der Tourist die Beschreibungen, so dass jede Reise mit einer imaginären beginnt. So leidet die Veranstaltung ebenso an der Schaustellung allzu vieler attraktiver Versatzstücke aus dem Fundus des Museums wie an der Abwesenheit von Material, das für das Thema von Relevanz gewesen wäre. Vor allem aber vermittelt die undifferenzierte Aufzählung den Eindruck, als wären die unerfüllten Wünsche der Menschen während des gesamten Jahrhunderts unverändert geblieben. Der Gefühlsinhalt einer Epoche erschließt sich jedoch erst, wenn die Veränderungen aufgezeigt werden, die ihn jeweils konstituieren.
Während der Katalog großzügig angelegt ist – dickes Papier, großflächig reproduzierte Vorlagen, meist einseitig arrangiert, wenig textliche Begleitung –, leidet die Ausstellung an einiger Enge. Ein sich ständig windender Pfad mit beidseitig angebrachten Exponaten verlangt immer wieder Unterbrechungen und das Wechseln der Richtung. So wirkt die Ansammlung ein wenig wie ein Kuriositätenkabinett, dessen Vielfalt sich vor das besondere Einzelne stellt. Die Fülle macht ebenso neugierig, wie sie das Vergessen fördert. Die Räumlichkeiten eröffnen keinen genügenden Raum für unsere Vorstellungen von den imaginären Reisen jenes Jahrhunderts. Es ist die „Einschließung“ im Museum, die den Besucher immer nur den musealen, den abgehobenen Blick auf die Exponate erlaubt, also nicht den unbefangenen, naiven fördert, der aus den Objekten eine eigene Geschichte zu formen vermag.
Die Abbildungen sind Wiedergaben aus dem Katalog.
Erwähnte Texte
Roland Barthes, „Nautilus und Trunkenes Schiff“, in: ders., Mythen des Alltags [ Mythologies , 1957], Deutsch von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 5 1980 (edition suhrkamp, 92), S. 39-42, hier S. 41.
Tuvara, ohne Titel, in: Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur, Musik, Mode und geselliges Leben , 32. Jg., Wien 1839, S. 1020.
Jänner 2009
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© Timm Starl 2009
PDF - 394kb
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