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Fotokritik

Timm Starl
Vielleicht ... und so weiter!

Günter Grass
Die Box
Dunkelkammergeschichten
Göttingen: Steidl, 2008
20 : 11,6 cm, 215 S., 10 Abb.
€ 18,-

Die ersten Sätze eines Romans, einer Erzählung können verblüffen, neugierig machen, irritieren. Günter Grass will alles zusammen und kündigt an, dass er etwas vorhat, was nicht möglich ist. Die acht Kinder sollen vom Vater erzählen, dem Autor, „zwar ausgedacht vom Vater und nach seinen Worten, doch eigensinnig und ohne ihn, bei aller Liebe, schonen zu wollen.“ (7) Den Kindern wird eine eigene Perspektive zugestanden, die jedoch immer jene von Grass ist. Sie würden aus eigener Erinnerung die vergangenen Geschehnisse beleuchten, aber es ist natürlich immer der Schriftsteller, der sich erinnert. Gleichwohl wären sie imstande, Eigensinn zu zeigen, wenn doch nur aufgeboten wird, was dem Vater in den Sinn gekommen ist.
           Wer mag, entdeckt in dem Ansinnen, die Denkfiguren könnten unabhängig von ihrem Schöpfer agieren, einen ersten Bezug zur Fotografie. Die Kamera habe schließlich eine eigene Optik, auch wenn wer sie handhabt entscheidet, worauf diese sich richtet. Und es würden sich die technischen Bedingtheiten ebenso in den Bildern niederschlagen wie die subjektive Sicht des Fotografen. Auch wenn Grass solchen Überlegungen nachgehangen hat, so liegt ihm fern, sie nachvollziehbar werden zu lassen. Denn sein Thema ist das Leben, nicht die Fotografie, die nur die Krücke abgibt, um es erzählerisch zu meistern. Was sich zwischen den 1950er und 90er Jahren ereignet hat, soll nicht vollständig und genau wiedergegeben werden, sondern bloß in Skizzen, in Einzelbildern, die nur grobe Konturen heraustreten lassen, dies und jenes berühren.
           Das Metier des Autors ist die Andeutung. Bereits die Zeichnung auf dem Umschlag des Buches zeigt nur in etwa die Box, von der in der Folge die Rede sein wird. Im Inneren erfährt die Kamera genauere, wenngleich abweichende Bestimmungen. Es handle sich um eine „Agfa-Box Nummer 54, die auch Box I hieß“ (14) und „aus dem Jahr dreißig“ (41) stamme. Nach der Werkgeschichte des Unternehmens ist dieses Modell jedoch 1931 auf den Markt gekommen. Nun sind Aussehen und Erscheinungsjahr nicht wesentlich für das, was erzählt wird, wohl aber bezeichnend für die Ungenauigkeiten, mit denen dem Leser durchgängig unscharfe Bilder vorgesetzt werden.
           Worum geht es? Die Fotografin Maria Rama (1911 – 1997), der Grass das Buch widmet, begleitet die Familie über die Jahre als Freundin und Bildchronistin. Ihre Fotos veranlassen die acht Kinder bei ihren diversen Treffen immer wieder, sich zu erinnern. Das heißt, es war natürlich der Vater, der „die Fotos brauchte“, lässt er ein Kind sagen, „um sich, was früher war, genau vorstellen zu können.“ (41) Grass erlauben die Bilder darüber hinaus, die Kinder sprunghaft das Thema wechseln zu lassen, Zeitsprünge vorzunehmen – man kennt das vom gelegentlichen Durchsehen der Familienfotos, beim Blättern im Album, beim Durchwühlen des Schuhkartons, wenn man Aufnahmen begegnet, die längst vergessen sind, und Erinnerungen auftauchen, die im Gedächtnis vergraben waren. Der Erzähler erinnert sich an die vier Mütter der Kinder, an die Häuser, die nach und nach erworben worden sind, an die Unterstützung für Willy Brandt in zwei Wahlkämpfen, an Reisen, an Alltägliches. Doch er erinnert sich zumeist „verschwommen [...] wie durch ne Milchglasscheibe“ (31), was einem Kind in den Mund gelegt wird. Auch das Verhältnis zur Fotografin, die als „Marie“, „Mariechen“ oder „die olle Marie“ figuriert, wird nicht geklärt: „Ist vielleicht seine Geliebte gewesen.“ (60)
           Das Unausgesprochene beherrscht den Text, das, was gewesen ist und nicht ausgesprochen wird, was erinnert werden könnte, aber von dem keine Aufnahmen vorliegen beziehungsweise vorgelegt werden. So kann es nicht weiter gehen, bemerkt recht bald der Autor selbst: „Was soll das Gesülze mit wenn und hätte und wäre ...“ (45), wird in einen Dialog eingeflochten. Dem Ungefähren setzt Grass das Phantastische zur Seite, ein harmonisches Paar, zumal jedes Züge des anderen aufweist. Mariechen verfügt nämlich über einen Zauberkasten: „Meine Box macht Bilder, die gibts nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch nicht im Traum einfallen.“ (19) Der Leser, kann man es übersetzen, möge nicht vergessen, dass das Leben im Rückblick eine Konstrukt von heute ist, ein Märchen, wie schon im ersten Satz der Dunkelkammergeschichten klargestellt: „Es was einmal ein Vater [...]“ (7)
           So kann man ohne weiteres eine Tochter nackt über den Kurfürstendamm laufen lassen, die eine oder andere kleinbürgerliche Obsession ins Spiel bringen, ohne dass jemand behaupten könnte, etwas habe tatsächlich stattgefunden, die Tochter hätte exhibitionistische Neigungen oder den Vater würden dieserart Träume verfolgen. Und zugleich bewegt man sich – wenn man so will – im Fotografischen, denn was immer Mariechen aufgenommen hat, die Kinder und ihr Vater sehen oftmals etwas anderes – wie ja die Wirklichkeit der fotografierenden Person, die mit dem Druck auf den Auslöser ein zukünftiges Bild imaginiert, eine andere ist als jene des Betrachters, der das Vergangene mit allerlei Vorstellungen garniert.

Es finden sich noch weitere Anspielungen auf fotografische Aspekte, wobei immer wieder das Geläufige verfremdet, das Banale ins Komplizierte gewandelt wird. Man wird im Laufe der Lektüre der ständigen Unschärfe im Biografischen wie im Fotografischen mehr und
mehr überdrüssig. Schließlich muss auch Grass gespürt haben, dass des Guten nun ausreichend getan ist und lässt einen Sohn zum anderen sagen: „Los, Atze, stell [das Mikrofon] ab, sonst gehts weiter und weiter, endlos so weiter ... weil unserm Vater immer noch ne Geschichte ...“ (211) Nein, man mag sie nicht mehr lesen, alles Interesse ist verflogen, der Buchdeckel wird zugeklappt, und man erblickt eine Zeichnung auf dem hinteren Umschlag: Mariechen in Aktion, ohne in den Sucher zu schauen, also nicht auf den Ausschnitt achtend, nach links in Richtung Text laufend, den Geschichten hinterher, die nicht erzählt worden sind. bild

Zitierte Literatur
Agfa. Geschichte eines deutschen Weltunternehmens von 1867 bis 1997 , Günther Kadlubek (Text), Rudolf Hillebrand (Fotos), Neuss: Edition PhotoDeal, Rudolf Hillebrand, 1997, S. 187 f.

Die Abbildung ist eine Wiedergabe aus dem besprochenen Band.

September 2008

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© Timm Starl 2008

PDF - 70kb

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