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Fotokritik

Timm Starl
Kalte Blicke

Andreas Gursky. Architektur
Hrsg. von Ralf Beil und Sonja Fessel
Katalog zur Ausstellung im Institut Mathildenhöhe, Darmstadt
vom 11. Mai bis 7. September 2008
Ostfildern: Hatje Cantz, 2008
24,5 : 29,7 cm, 111 S., 94 farbige Abb.
Gebunden
€ 39,80, SFR 69,-

Eine Großstadt, die Kamera in einem oberen Stockwerk aufgestellt, eine Fülle architektonischer Details, menschenleer, bis auf zwei Personen, die mit Mühe zu erkennen sind – nein, es handelt sich nicht um eine Aufnahme von Andreas Gursky, sondern von Louis Jacques Mandé Daguerre aus dem Jahr 1838. Der Schuhputzer und sein Kunde sind zufällig aufgezeichnet worden, weil sie sich ruhig verhalten haben, während sich die Fuhrwerke und Passanten während der 10 bis 15 Minuten Belichtungszeit gleichsam aus dem Bild bewegt haben. Daguerre, der die Erfindung eines anderen zu einem praktikablen Ende geführt hatte, war ein großartiger Geschäftsmann, der sein Verfahren gegen eine lebenslange Rente des französischen Staates eintauschte. Mit Menschen hatte er fotografisch wenig im Sinn, in den Aufnahmen von Paris sind sie nur aus der Entfernung zu sehen. Mehr Interesse zeigte er an der Architektur, an den Brücken, den Kathedralen, dem Louvre. Von seinem ersten Apologeten, Jules Janin, wurde er in den Himmel gehoben, gleich neben Gottvater, der „‘sprach: Es werde Licht und es ward Licht.' Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: ‘Werdet Bild' und die Türme gehorchen. So wie sie Daguerre gehorcht haben [...]“

 

Louis Jacques Mandé Daguerre

Louis Jacques Mandé Daguerre

Louis Jacques Mandé Daguerre: Boulevard du Temple, 1838, Daguerreotypie, 12,9 x 16,3 cm,
sowie Ausschnitt
(aus: Beaumont Newhall, Geschichte der Photographie , Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, München: Schirmer/Mosel, 1984, S. 1)

   
Andreas Gursky Andreas Gursky
Andreas Gursky: „99 Cent“, 1999 sowie Ausschnitt (aus dem besprochenen Band, S. 51)

 

            Auch Gursky ist mit einer Arbeit, die in Paris entstanden ist, berühmt geworden („Paris, Montparnasse“, 1993), auch er steigt gern hoch hinauf, um sich einen Überblick zu verschaffen, auch seine Fotografien bestechen durch ihre Detailschärfe. Den Fotografen begreift er nach eigener Aussage in geradezu metaphorischer Verzückung als „außerplanetarisches Wesen“ (18), und manch ein Kommentator kann dem folgen, spürt einen „Gottesblick“ (42) oder identifiziert den „Blick aus der kosmischen Perspektive [...] oder gar eines Engels“ (57). Aus dieser Entfernung erscheinen die Menschen als „Winzlinge“ und der einzelne bloß noch als „Farbklecks“ (69).
            Daguerres Aufnahme hat die Zeitgenossen zur Lupe greifen lassen, fasziniert von der zahlreichen Kleinigkeiten, die in der Vergrößerung auszumachen sind. Sie bekamen zu sehen, was ihnen täglich auf den Straßen begegnete, aber gewöhnlich nicht beachtet wurde: geöffnete Fenster, Mauerrisse an den Häusern, gebrochene Ziegel. Auch in Gurskys Aufnahmen entdecken manche der Katalogautoren und -autorinnen das eine oder andere Detail: Elisabeth Bronfen sieht in „Prada II“ von 1997 „rechts oben im Bild eine abgeschirmte Dose“ (49), deren Funktion nicht zu erkennen ist. Und Thomas Zaunschirm liest in der Müllhalde von Mexiko City, aufgenommen 2002, auf einer Verpackung die Aufschrift „Bananas“ (78). Diese besondere Aufmerksamkeit der Betrachter stellt sich ein, wenn ungewohnte Bilder über sie fallen, vor allem solche mit dem Anschein der technischen Perfektion, die geradezu herausfordern, ein störendes Element zu finden. Als würde in den weiträumigen Ansichten etwas übersehen oder vom Fotografen mit Absicht ins Bild gebracht worden sein, das mit Bedeutung geladen ist.
            Auch wenn Gurskys Arbeiten attestiert wird, sie seien Wiedergaben einer globalisierten Welt, so lösen die Glätte der Inszenierung sowie die Abwesenheit oder Miniaturierung von Menschen in den meisten Aufnahmen Irritation und ein unbehagliches Gefühl aus. Allzu deutlich spricht aus den Bildern das Desinteresse am Individuum, und die Begegnung mit einem solch unverblümt vorgetragenen kalten Blick macht schaudern. Aus manchen Beiträgen spricht denn auch der Zweifel, ob die Ästhetisierung des Massenhaften, die Überführung aller Einzelheiten ins Ornamentale nicht lediglich ein Raster seiner selbst liefere, das den Takt für ein Hohelied der fotografischen Kunst vorgibt. Nicht auf die Systematik der Analyse deutet dieses Raster, sondern es gleicht mehr einem Gitter, das vor näherer Inaugenscheinnahme abhält. Die großen Entfernungen, die Gursky in seinen Aufnahmen überbrückt und einfängt, kennzeichnen nicht wenig die Abstände zu dem, was sich in und hinter den realen Objekten verbirgt. Die lebhafte Farbigkeit vieler Inszenierungen wirkt zudem wie ein bunter Vorhang, der den Alltag schön färben soll und die tatsächlichen Verhältnisse verbirgt. Aleida Assmann sagt es am unverbümtesten: „Was auf diesem Raum zusammengedrängt ist, hat tatsächlich alle Spuren menschlicher Schicksale und Geschichte verloren; übrig geblieben ist ein mit einem ornamentalen Perlenmuster bestickter Teppich [...]“ (57).
            Gursky, Jahrgang 1955, ist weiter gegangen als sein Lehrer Bernd Becher, zu dessen Meisterschülern in Düsseldorf er Mitte der 1980er Jahre gezählt hat. Was dieser mit Serien von Architekturdarstellungen begonnen hat, erledigt jener jeweils in einem einzigen Bild.: Bechers stereotyp aus immer gleichem Winkel aufgenommenen Fördertürme und anderen Bauwerke werden in Ausstellungen und Veröffentlichungen niemals als einzelne Exponate präsentiert, sondern immer als Block von vier oder mehr Bildern. Gursky multipliziert die Fälle und – ob Hunderte Fenster eines Hotels (2001) oder Tausende Waren in Regalen (1999), ob unzählige Akteure auf der Terminbörse in Chicago (1999) oder mehrere Hundert vietnamesische Arbeiterinnen beim Korb- und Stühleflechten (2004) – er führt sie alle im Muster der Gleichförmigkeit vor.

 

Andreas Gursky

Andreas Gursky

Andreas Gursky: „Nha Trang“, 1999
(aus dem besprochenen Band, S. 87)
Andreas Gursky: „Cheops“, 2005
(aus dem besprochenen Band, S. 95)

 

            Was dieserart Arbeiten auszeichnet, am Markt reüssieren lässt und den Kunstkritikern die Argumente liefert: Sie stehen für das Serielle wie das Konzeptionelle, für das Dokumentarische und nicht zuletzt für die Potentiale der Fotografie zur Sammlung und Archivierung. Das eine Mal belegen sie dies, das andere Mal etwas anderes, passen irgendwie in fast jede Schau und sind nahezu jeder Interpretation zugänglich. Solche Beliebigkeit macht beliebt. Gurskys Kreationen zeigen ihre Objekte mit dem Gestus, die vergangenen und gegenwärtigen Verhältnisse zu meinen, und gehen doch nicht weiter als bis zur Fassade. Diesbezüglich geradezu offenherzig gibt sich die Ansicht eines Apartmenthauses für 5.000 Menschen in Sao Paulo („Copan“, 2002), die aus Vorder- und Rückseite zusammengesetzt ist, also die Außensicht als einzig wesentliche behauptet.
            Und trotzdem ..., meinen fast alle 17 Autoren und Autorinnen dieser Publikation und bereden, was die Bilder für sich nicht hergeben, ordnen zu, stöbern in der Geschichte der Literatur und Künste, bemühen alles, was Rang und Namen hat und einen Bezug wert ist. Die Auseinandersetzungen mit Gurskys Werken – jeder und jede befassen sich jeweils mit einem Bild – werden ernsthaft geführt, wirken gelegentlich angestrengt, als habe man überredet werden müssen, sich zu dem Fotografen und seinen Entwürfen zu äußern. Manchmal klingt leise Kritik durch. Geradezu peinlich berührt allerdings der Jubel von Ralf Beil, dem Leiter der Mathildenhöhe, wo die Ausstellung ausgerichtet wurde. Er spricht gleich eingangs „von einem der bedeutendsten Fotografen der Gegenwart“ (6) und dessen „monumentalen Fotografien“ (8), zitiert reihenweise Superlative, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im Stern , in der Zeit und in der Tageszeitung zu lesen waren. Im Versuch, auch zu eigenen Einschätzungen zu kommen, gelangt er zu der kuriosen Wertung: „Und es sind gerade die digitalen Manipulationen, durch die der Künstler [= Gursky] dem Architekten und seiner Architektur gerecht wird.“ (11). Genauso haben schon die Verfechter der Retusche im 19. Jahrhundert argumentiert, die doch erst die Mängel der fotografischen Darstellung ausgleiche, auf dass die schönere Wirklichkeit hervortreten könne.
           Und dennoch ..., muss auch ich einschränken, denn der Band enthält einen ganz vorzüglichen und anregenden Text, der einzige, der sich nicht mit Gursky beschäftigt: Der Philosoph Gernot Böhme referiert „[ü]ber die Beziehung von moderner Architektur und Fotografie“ (24 bis 31), setzt bei einer Charakterisierung des Raumes an, der ausschließlich erlebbar, aber nicht fotografierbar sei. Weil die Architekten ihre Werke als „visuelle Kunst“ verstünden, verlangten sie nach umfassender bildlicher Darstellung und lehnten das Ephemere, das die Zeit ins Spiel bringt, ab. Eine neue Architekturfotografie würde jedoch auch das Atmosphärische berücksichtigen, das darauf verweist, dass nicht alle Tage gleich sind und die Bewohner ihre Gebäude ganz unterschiedlich erleben könnten, je nach Tageszeit und Wetter, nach dem, was sich vor den Fenstern und dem Eingang abspielt, der Frequenz auf den Gehsteigen und den anliegenden Straßen, je nach dem Trakt und Zimmer, in dem man sich gerade befindet. Eine solche Sichtweise wäre der Architektur als Refugium des täglichen Daseins angemessen. Der Text – er spricht noch andere Komplexe an und sucht auch nicht zu jeder Frage eine Antwort – mutet an wie ein Gegenentwurf zum Konzept von Andreas Gursky und nimmt dessen Namen wohlweislich nicht in den Mund.
           Böhme ist es auch, der den Reigen der Interpretationen schließt und sich als Letzter zu einer Aufnahme äußert, die er zwar „schön“ findet, sich aber auch gern wieder dem wahren Leben zuwendet: „Man kehrt zurück aus Gurskys Vision, tastet nach Brille und Schlüsselbund und wäre nicht unglücklich, wenn man draußen unverhofft auf einen Mairegen träfe.“ (99)

Zitierte Literatur
Jules Janin, „Der Daguerreotyp“ [1839], in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie I. 1839 – 1912 , München: Schirmer/Mosel 1980, S. 46-81, hier S. 47.

Juli 2008

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© Timm Starl 2008

PDF - 1,2mb

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