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Fotokritik

 

Timm Starl
Die „umfangreichste Foto-Studie über Berlin“

Hans Christian Adam
Directed and produced by Benedikt Taschen
Berlin
Porträt einer Stadt / Portrait of a City /Portrait d'une ville
Köln u.a.: Taschen, 2007
34,7 : 25,2 cm, 671 (+1) S., 579 teils farbige Abb.
Gebunden, Schutzumschlag
€ 51,40

Meinen Spaziergang durch Berlin habe ich begonnen, „wo die Friedrichstraße den breiteren, eleganteren und berühmteren Boulevard Unter den Linden kreuzt“ , wie die Bildunterschrift vermerkt (44). Angeregt hat mich zu diesem Anfang zunächst ein Bildausschnitt gegenüber der Titelseite des Buches und der Name des Fotografen Burton Holmes, von dem ich noch nie gehört hatte, dann die vollständige Abbildung (44/45) und deren auffallendes Format und nicht zuletzt eine Äußerung von Heinrich Heine, die der Aufnahme von 1907 beigegeben ist. Ein wenig irritierend ist mir der Bildtitel „Victoria Café, Unter den Linden, Berlin“ erschienen, denn zu sehen ist eine Kreuzung, aufgenommen von einem Standort minimal über Straßenniveau, im Zentrum ein mächtiger Lichtmast mit den Straßenschildern; die linke Bildhälfte beherrscht der Vorderteil eines Busses, der in Richtung „Halensee (Ringbahnhof)“ fahren wird; rechts stehen Kolporteure, wobei eine ältere Frau die Deutsche Zeitung anbietet, dahinter frequentieren zahlreiche Passanten die Übergänge; den unscharfen Hintergrund bildet ein Gebäude, an dessen Fassade das Schild „Victoria Café“ prangt, wobei von dem Lokal nur wenig zu sehen ist.

 

Burton Holmes

Burton Holmes: „Victoria Café, Unter den Linden,
Berlin, 1907“ (S. 2, Ausschnitt)

 

            Die 31,1 x 34,6 cm große Abbildung – die ich nur zum Teil wiedergeben kann, weil ihr mein Scanner nicht gewachsen ist – lässt vermuten, dass die originale Vorlage beschnitten worden ist. Ein Vergleich mit den beiden anderen Illustrationen gleicher Provenienz mit den Maßen 33,9 x 24,8 (30) und 15,7 x 16,6 cm (62) bestätigen den Verdacht, denn keines der Maße entspricht den üblichen Formaten der Jahre ihrer Herstellung. Es ist also davon auszugehen, dass die für „Design“ (671) Verantwortlichen auch andere Vorlagen ihren gestalterischen Vorstellungen angepasst und unvollständig wiedergegeben haben. Was in fotohistorischer Sicht den Bemühungen von Hans Christian Adam entgegen steht, der eine Reihe bislang nicht veröffentlichter Aufnahmen für „die umfangreichste Foto-Studie über Berlin“ (Klappentext) aufgetan hat. Dem fotogeschichtlich unkundigen Leser werden solche Eingriffe nicht auffallen, wohl aber die etwas flau wirkenden Farben und die durchwegs blaustichige Herrenkleidung, was von den meisten wohl dem Alter des Farbfotoverfahrens zugeschrieben, nicht aber erkannt wird, dass es sich um eine kolorierte Fassung handelt, was nirgends vermerkt ist.
           „Ja, das sind die berühmten Linden“ (44), beginnt die Passage aus Heines „Briefen aus Berlin“, die einer Ausgabe von 1954 entnommen ist, wie in den „Zitatnachweisen“ angezeigt wird (666). Nicht verraten wird allerdings, dass das Schreiben 1822 verfasst worden ist, also der Schauder, den der Dichter empfunden hat, weil „unter diesen Bäumen [...] der Lieblingsspaziergang so vieler großer Männer“ stattgefunden haben könnte, weit vor der Zeit gelegen hat, als die Aufnahme entstanden ist, also man eher an das Lustwandeln berühmter Vorfahren denken mochte und nicht an den Lärm und die Hektik an einer Berliner Kreuzung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Misstrauisch geworden ob der lässigen Zusammenstellung von zeitgenössischen bildlichen und schriftlichen Äußerungen aus diversen Epochen habe ich in einer anderen Publikation zu Heine von 1968 nachgesehen und feststellen müssen, dass nicht korrekt zitiert, nämlich ein Nebensatz weggelassen worden ist. Zu dem verstümmelten Bild hat sich ein ebensolcher Text gesellt.
           Es sind nicht die einzigen Auslassungen, die den voluminösen Band charakterisieren. Schwerer wiegen thematische Unvollständigkeit und Herausstellungen mancher Personen und Bilder. Das jüdische Leben in Berlin ist ebenso nicht präsent wie die Theater- und Kabarettszene, obwohl beide in der Zeit während der Weimarer Republik das Gesicht wie die Atmosphäre der Stadt nicht unwesentlich bestimmt haben. Wogegen den Filmsternen, Varietés und Nachtklubs derselben Ära eine ausführliche Bildstrecke (160 bis 173) gewidmet ist. Dass jüdische Text- und Bildautoren – wie unter anderem Walter Rathenau und Erich Salomon – mit Beiträgen zu vornehmlich politischen Anlässen vertreten sind, wiegt das Manko nicht auf. Die Berührungsangst der Verantwortlichen war offensichtlich so groß, dass im Kommentar zu einer Aufnahme aus dem Scheunenviertel (235) der hohe Anteil der jüdischen Bevölkerung in diesem Stadtteil keine Erwähnung findet, wie auch kein Bild einer Synagoge in dem Band enthalten ist. Erst in den antisemitischen Parolen der Nationalsozialisten, die in zwei Abbildungen festgehalten sind (248), taucht das Wort „Jude“ auf. Insofern wirken die Aufnahmen des Jüdischen Museums von 1995 und des Holocaust-Mahnmals von 2005 am Ende des Bildteils geradezu peinlich.
           Auch andere Bereiche sind nicht in angemessenen Proportionen berücksichtigt worden. Die APO hat ihren Auftritt in drei Aufnahmen von 1967 und 1968 (542 bis 545), das ist ebenso oft wie Helmut Newton mit drei Modefotos von 1979 und 1981 (562 bis 565). Die Mauer wird ausschließlich – und nicht nur bildlich – vom Westen aus gesehen (502 bis 519); die Peripherie ist so gut wie gar nicht vorhanden. Auch an anderer Stelle hat man sich von bekannten Namen leiten lassen. Wolfgang Tillmans ist gleichfalls mit drei – wie gewohnt gestalterisch ziemlich anspruchslos geraten – Arbeiten vertreten. Eine besonders hohe Wertschätzung wird ihm zusätzliche im biografischen Anhang zuteil: Person und Werk werden mit 20 Zeilen gewürdigt , mehr als jedem anderen der etwa 120 genannten Bildautoren und -autorinnen zugebilligt wird, mehr als Henri Cartier-Bresson, Arno Fischer, Barbara Klemm, Floris M. Neusüss, Helga Paris ... Sasha Stone, Friedrich Seidenstücker und nicht zuletzt Heinrich Zille.
           Ich habe mehrere Spaziergänge unternommen, diese da und dort unterbrochen und an anderer Stelle wieder aufgenommen, bin auf gutes und weniger gutes Bildmaterial, auf treffende und belanglose Zitate gestoßen. Berlin ist mir nicht näher gekommen, auch und erst recht nicht durch die dazwischen geschobenen Texte, die in Schlagworten und mit Zahlen durch fünf Abschnitte der Geschichte hetzen, um 1860 beginnend und „heute“ endend. Schließlich lande ich beim letzten Bild, das sich einer übrig gebliebenen Seite nach dem Impressum beziehungsweise vor dem Nachsatzblatt verdankt (672): „Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 [...]“ Offensichtlich wurden gerade die Nationalhymnen gespielt, denn die Kanzlerin steht stramm und legt die Arme an. Wenn ich von meiner Schreibunterlage aufsehe, erscheint das Bild spiegelnd als Negativ , wie bei den anderen Illustrationen auch, sofern in einem bestimmten Winkel Licht auf sie fällt, denn zur Reproduktion wurde reichlich Lack verwendet, weshalb sich die Bilder bei einer bestimmten Betrachtung gewissermaßen zurückziehen und nicht viel mehr als der aufgesetzte Glanz zu erkennen ist.

 

Werner Huthmacher Werner Huthmacher: „Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 auf dem Großbildschirm der Fanmeile am Brandenburger Tor, wo Tausende Fans das Halbfinale zwischen Deutschland und Italien verfolgen.“ (S. 672)

 

           Der Band kostet 51,40 Euro, was im Hinblick auf die Zahl der Seiten und Abbildungen nicht viel ist und ihm den nötigen Absatz im Modernen Antiquariat sichern wird, weil viele Kunden meinen, es handle sich um einen reduzierten Preis – wie bei anderen Büchern aus dem Verlag Taschen. Mir ist rätselhaft, wie ein ausgewiesener Fotohistoriker und glänzender Rechercheur wie Hans Christian Adam einer solchen Publikation zustimmen konnte, worauf mich die Frage sofort zum Anfang des Buches führt, wo knapp unter dem Namen des Autorsangemerkt wird: „Directed und produced by Benedikt Taschen“, was heißen kann, wenn ich die diversen Nuancen der lexikalischen Deutung berücksichtige, der Verleger habe Anordnungen oder Anweisungen gegeben beziehungsweise den Autor gelenkt oder geleitet, also Adam sei möglicherweise ausschließlich für die Bildbeschaffung zuständig gewesen ist und Taschen für alles andere.

Zitierte Literatur
Heinrich Heine, Reisebilder. Erzählende Prosa. Aufsätze , hrsg. von Wolfgang Preisendanz, Frankfurt am Main: Insel, 1968 (Werke, Bd. 2), „Erster Brief“ vom 26. Januar 1822, S. 7-19, hier S. 13.

Die Abbildungen sind Wiedergaben aus dem besprochenen Band.

Juni 2008

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© Timm Starl 2008

PDF - 298kb

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