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Fotokritik

 

Timm Starl
Postkarten und Avantgarde

Clément Chéroux, Ute Eskildsen
Frankierte Fantastereien
Das Spielerische der Fotografie im Medium der Postkarte
Aus den Postkartensammlungen Gérard Lévy, Peter Weiss
Ausstellungskatalog Fotomuseum Winterthur, Jeu de Paume, Paris, Museum Folkwang, Essen
Göttingen: Steidl, 2007
30,1 : 30,2 cm, 215 (+1) S., 345 Abb. in Farbe
Gebunden, Schutzumschlag
€ 40,-, SFR 63,-

„Seit etwa zwanzig Jahren bemüht sich die Kunstgeschichte verstärkt darum, die Beziehungen der Künstler des 20. Jahrhunderts zur Populärkultur besser zu verstehen.“ Den Rückblick ergänzt Clément Chéroux um einige Ausstellungen und Publikationen, die in den vergangenen Jahrzehnten in den USA und Frankreich erschienen sind. All die Kuratoren und Publizisten fahndeten nach „Elementen, die üblicherweise nicht dem Bereich der Kunst zugeordnet werden“ (200) und der Avantgarde als Anregungen gedient hätten. Dieser Suche nach stilistischen oder motivischen Vorbildern gehört eigentlich zu den Lieblingsbeschäftigungen des Faches, wenn nicht gerade ein Genie zur Begutachtung ansteht, dem ausschließlich originäre Einfälle attestiert werden. Insofern ist es verdienstvoll, wenn sich Chéroux aufmacht und die Postkartenproduktion durchforstet nach Hervorbringungen, die auf irgendeine Weise Einfluss auf die Arbeiten von Duchamp, Man Ray, Hannah Höch und anderen Größen ausgeübt haben könnten. Damit erfahren manche Leistungen von Künstlern eine Relativierung, indem sie aus dem Schwebezustand der Einmaligkeit befreit und auf ein historisches Fundament gestellt werden. Und der Postkarte käme endlich insofern Beachtung zu, als einige ihrer Werke als relevant für die Bildgeschichte der Fotografie, Fotomontage und Collage angesehen werden.
           So weit, so gut! Doch Chéroux schreibt den „fantastischen Welten [...] des populären Bildes“ (197) auf Postkarten teilweise eine Rolle zu, die ihnen nicht angemessen ist. Denn nicht wenige „Fantastereien“ sind älteren Datums und nicht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Karten in den Maßen 14 x 9 cm in Umlauf gekommen. Kuriose Montagen, Geisterbilder und Doppelgängerporträts sowie Vignettierungen hat es schon auf Cartes de visite der 1860er Jahre gegeben. Personendarstellungen als Skulpturen und Büsten kennt man auf Cabinetbildern der 1890er Jahre. Mit anamorphotischen Deformationen hat bereits Louis Ducos du Hauron 1889 gearbeitet. Bemalte Kulissen mit Ausschnitten für die Gesichter waren bereits in manchen Ferrotypie-Buden auf Jahrmärkten und Ausflugszielen vor der Jahrhundertwende in Gebrauch. Was jedenfalls die Skala der Sujets angeht, haben die wenigsten ihre erstmalige Wiedergabe auf Postkarten gefunden, auch wenn diese zur deren Popularisierung beigetragen haben.
           Chéroux teilt die Bildpostkarten in drei Gruppen je nach ihren Herstellern: Verlage, kleine Studios, Amateure. Eine solche Struktur ist wenig aufschlussreich, zumal Amateure vor wie nach 1900 vielfach denselben Praktiken wie die Atelierfotografen nachgegangen sind, insbesondere was Doppelbelichtungen und Doppelgängerbildnisse anlangt. Die entsprechende Anleitungsliteratur – wie beispielsweise das Photographische Unterhaltungsbuch von Alfred Parzer-Mühlbacher, zuerst erschienen 1905 – wendete sich ebenso an professionelle Lichtbildner wie an Dilettanten. Zudem traten noch andere Hersteller von Postkarten auf den Plan: Firmen verlegten Werbekarten, Operettenspielstätten beauftragten Fotografen, die Ansichten des Gebäudes, eines auftretenden Sängers samt dem Refrain eines bekannten Liedes und andere Mitwirkende zu einer Collage zu vereinigen, die als Postkarte vervielfältigt und vom Auftraggeber vertrieben wurde.

 

Eugène Le Deley
André Kertesz
M. Bonnard
Eugène Le Deley: „Le Tour Eiffel se gondole“, um 1914, Postkarte, Lichtdruck (S. 88) André Kertesz: „Distorsion n° 6“, 1933, neuer Abzug, 24,5 x 16,5 cm (S. 123) M. Bonnard: „Musée Grévin. Les glaces déformantes“, Postkarte, Lichtdruck (S. 71)

 

            Abgesehen von den fotogeschichtlichen Defiziten geriet die Gegenüberstellung von Postkarten und einigen Kreationen bekannter, vorwiegend dadaistischer und surrealistischer Künstler allzu mechanistisch. Sicherlich ist die eine oder der andere durch ein Motiv, eine Technik, ein Verfahren inspiriert worden. Doch Produkte der 1920er oder 30er Jahre treten bei aller Ähnlichkeit in einem anderen sozialen und kulturellen Umfeld auf als solche ein Viertel Jahrhundert davor. Wenn André Kertesz in der ersten Hälfte der 1930er Jahre seine „Distorsions“ von nackten Frauenkörpern fabriziert, so mag er die verzerrten Wiedergaben des Eiffelturms aus der Zeit um 1914 oder auch solche von Besuchern des Musée Grévin um 1909 gekannt haben. Doch diese Kenntnis erklärt nicht den Stellenwert seiner Entwürfe innerhalb seines Œuvres und vor allem nicht angesichts zeitgleicher Aktdarstellungen anderer Bildautoren. Eine dadaistische Collage von Paul Citroen auf einem Briefbogen, den er 1920 Francis Picabia sendet, kann doch nicht mit einer Werbekarte zur „Papiermesse“ in Leipzig verglichen werden, die der Verlag Reinhold Knobbe 1908 herausgibt, nur weil in beiden u.a. Teile von städtischen Gebäuden und ein Grammophon einmontiert sind.
           In dem weitgehend oberflächlich argumentierenden Text wird lediglich auf die formalen Ähnlichkeiten hingewiesen, nicht aber auf die Ungleichzeitigkeiten eingegangen und Erklärungen gesucht, weshalb manche Themen und Gestaltungsmittel nach 20 und 30 Jahren wieder aufgegriffen oder neu entdeckt worden sind. Damit verschenkt Chéroux eine günstige Gelegenheit, denn das höchst interessante und attraktive Bildmaterial stellt mehr als „ein riesiges Reservoir an Motiven dar, aus dem die Avantgarden ohne Skrupel schöpften“ (203). All die Kuriosa auf Postkarten entspringen doch einem Bildbedürfnis am Beginn des Jahrhunderts, dessen gesellschaftlichen Bedingungen nachzugehen wäre. Weshalb werden Personen und Gegenstände als Bilder zerlegt und in neuen Konstellationen zusammen gesetzt, verzerrt wiedergegeben, verdoppelt, verfremdet? Und welche Bedeutung kommt der Tatsache zu, dass avantgardistische Künstler zwei und drei Jahrzehnte später sich derselben Mittel bedienen oder zu ähnlichen Bildlösungen finden?

Zitierte Literatur
A. Parzer-Mühlbacher, Photographisches Unterhaltungsbuch. Anleitungen zu interessanten und leicht auszuführenden photographischen Arbeiten , Berlin: Gustav Schmidt, 1905, 2 1906

Die Abbildungen sind Wiedergaben aus dem besprochenen Band.

Februar 2008

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© Timm Starl 2008

PDF - 273kb

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