Fotokritik |
Timm Starl
Subjektive Dokumentationen zum britischen Alltag
und einfältige Kommentare einer amerikanischen Autorin
Sandra S. Phillips
Martin Parr
Aus dem Englischen von Susanne Stopfel
Berlin: Phaidon, 2007
24,9 : 21,3 cm, o.S. (64 Bl.), 10 Abb. in S/W und 46 in Farbe
Gebunden, Schutzumschlag
€ 19,95
Was an den Fotografien von Martin Parr sofort ins Auge sticht, sind die satten Farben. Sie wirken jedoch niemals grell, weil der Fotograf ihnen gleichsam Zügel angelegt hat. Sei es die Kleinteiligkeit vieler Gegenstände im Bild oder das zarte Beige, Rosa oder Hellblau einer Fläche im Hintergrund oder das Gegeneinander zweier gleich kräftiger Farbpartien – die Buntheit befindet sich im Gleichgewicht, ohne dass zentrale Motive an Prägnanz verlieren. Es ist, als würde da und dort ein Partikel aus dem Bild treten wollen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sofort wieder zurücktreten und in seiner Umgehung aufgehen. Nur bei den Makroaufnahmen der Serie „British Food“ dominiert jeweils ein Farbton.
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Martin Parr: Tupperparty, Salford, Greater Manchester, England, 1985, aus der Serie:
„Point of Sale“ (Abb. 14) |
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Diese Farbigkeit gehört nicht zu den Extravaganzen von Martin Parr, sondern stellt eines der Kennzeichen einer britischen Fotografie dar, die Anfang der 1980er Jahre aufgekommen ist und die Paul Graham, einer ihrer Exponenten, „subjective documentary“ genannt. Mit den Wahlsiegen der Konservativen unter Margaret Thatcher von 1979 und 1983, die zu rasanten sozialen und ökonomischen Veränderungen im Leben der Bevölkerung führten, erschienen die traditionellen Formeln sozialdokumentarischer Praxis überholt. Nicht mehr nur Armut und Alkoholismus, Gewalt und Wohnungselend sollten thematisiert und am Beispiel eines Ortes, Betriebes oder einer Gegend vorgetragen werden. Sondern die Repression von Staat und Unternehmen betraf ja den Großteil der Einwohner, Isolation und Resignation ließen sich beispielsweise auch im Alltag der Mittelschichten – ob auf der Straße, im Strandbad, in Warteräumen – festmachen.
Diese Öffnung der Themenfelder führte zu einer Vielzahl neuer Motive, die wiederum nach andersartigen Darstellungsweisen verlangten. Man wechselte von den Schwarzweißfotografien mit ihren Abstraktionen zur Farbe und ihrer Direktheit, von den aufmerksam komponierten Studien zur Unmittelbarkeit des Schnappschusses, vom einfühlsamen Porträt zur trivialen Szene, von der sachlichen Registrierung zur subjektiven Auslegung. Die Kamera kam den Menschen näher, befand sich unter ihnen, verlangte nicht deren Aufmerksamkeit, wurde gelegentlich von der Hüfte aus betätigt. So gerieten auch Kleinigkeiten ins Visier, Situationen am Rande, eine ungewöhnliche Handbewegung, ein forscher Blick. Eine Sparte der Fotografie hatte sich aufgemacht, um den aktuellen Strömungen und Befindlichkeiten ein adäquates Bild entgegen zu halten.
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Martin Parr: New Brighton, Merseyside, England 1983–86, aus der Serie:
„The Last Resort“ (Abb. 11) |
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Die Fotografen agierten nicht isoliert, sondern vor einem Diskurs, der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eingesetzt hatte. Insbesondere Victor Burgin lieferte mit seiner Kritik an den medialen Entwicklungen im Lande und in den USA, vor allem auch an den hehren Konzepten der so genannten sozialdokumentarischen Fotografie und mit Verweis auf historische Ansätze und Auseinandersetzungen die theoretischen Grundlagen zu einem neuen Verständnis von Fotografie. Diese offensive Reaktion innerhalb der Fotoszene auf die Folgen einer reaktionären Politik unterscheidet sich wesentlich von den gleichfalls um 1980 auftretenden und ähnlich wirkenden Tendenzen in anderen Ländern. So bedeutete beispielsweise für jene Fotografen in Österreich, die sich in jenen Jahren für die Erscheinungen ihrer unmittelbaren Umgebung zu interessieren begannen, das Dokumentarische nicht mehr als eine Geste. Hinter dieser verbarg sich ein Rückzug ins Private, mit dem man sich einer Stellungnahme zu den gesellschaftlichen Verhältnissen moderat entziehen konnte. Auch die alt und berühmt gewordenen amerikanischen Teilnehmer an der Ausstellung „New Documents“ von 1967 und deren Jünger unterschieden sich 15 Jahre später von ihren britischen Kollegen: Ihre Bilder ähnelten eher beiläufig aufgezeichneten Notizen und erreichten nicht jene Entschiedenheit, mit der Graham, Parr oder Chris Killip die aktuellen Zustände kommentierten. Die Fotografen agierten nicht isoliert, sondern vor einem Diskurs, der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eingesetzt hatte. Insbesondere Victor Burgin lieferte mit seiner Kritik an den medialen Entwicklungen im Lande und in den USA, vor allem auch an den hehren Konzepten der so genannten sozialdokumentarischen Fotografie und mit Verweis auf historische Ansätze und Auseinandersetzungen die theoretischen Grundlagen zu einem neuen Verständnis von Fotografie. Diese offensive Reaktion innerhalb der Fotoszene auf die Folgen einer reaktionären Politik unterscheidet sich wesentlich von den gleichfalls um 1980 auftretenden und ähnlich wirkenden Tendenzen in anderen Ländern. So bedeutete beispielsweise für jene Fotografen in Österreich, die sich in jenen Jahren für die Erscheinungen ihrer unmittelbaren Umgebung zu interessieren begannen, das Dokumentarische nicht mehr als eine Geste. Hinter dieser verbarg sich ein Rückzug ins Private, mit dem man sich einer Stellungnahme zu den gesellschaftlichen Verhältnissen moderat entziehen konnte. Auch die alt und berühmt gewordenen amerikanischen Teilnehmer an der Ausstellung „New Documents“ von 1967 und deren Jünger unterschieden sich 15 Jahre später von ihren britischen Kollegen: Ihre Bilder ähnelten eher beiläufig aufgezeichneten Notizen und erreichten nicht jene Entschiedenheit, mit der Graham, Parr oder Chris Killip die aktuellen Zustände kommentierten.
Martin Parr gehört zu den herausragenden Vertretern dieses neuen britischen Dokumentarismus. 1952 in Epson, Surrey geboren, studiert er von 1970 bis 1973 Fotografie an der Manchester Polytechnic. Von 1983 an wirkt er als Dozent für Fotografie, 1994 wird er Mitglied der Fotoagentur Magnum. Außer in Ausstellungen veröffentlicht er seine Arbeiten vorzugsweise in Büchern. Neben dem überlegten Umgang mit der Farbe zählt ein Faible für eher leise, wenn auch nicht weniger deutliche Töne in der bildlichen Argumentation zu seinen bemerkenswerten Fähigkeiten. Ob die Vorführerin auf der Tupperparty ihre Ware anpreist, Kinder Minigolf spielen, ein Souvenirhändler aus dem Bild läuft, die Eisverkäuferin missmutig in die Kamera blickt – eine eigentümliche Ruhe liegt über der Szenerie. Denn neben den Hauptakteuren befinden sich noch weitere Personen im Bild: Kunden warten auf die Bedienung, Hausfrauen sehen entspannt dem Treiben im Wohnzimmer zu, Kinder beschäftigen sich mit anderen Kindern.
Leider hat der Verlag mit der vorliegenden Publikation dem Fotografen keinen guten Dienst erwiesen. Denn der einleitende Text der „Senior Curator of Photography am San Francisco Museum of Modern Art“ Sandra S. Phillips begnügt sich mit einer so wortreichen wie bieder dargebotenen Biografie entlang der Projekte und Veröffentlichungen. Zudem wird ständig auf die US-amerikanische Fotogilde geschielt, und es werden Vermutungen, die wohl nur teilweise zutreffen, über den Einfluss auf Parr angestellt. Die Situation in Großbritannien – seien es die politischen Verhältnisse oder die fotografischen Aktivitäten – bleiben unerwähnt oder unterbelichtet. Unerträglich sind schließlich die Bemerkungen zu den Abbildungen: „Das ist eins von Parrs zauberhaftesten Bildern [...]“ (zu Abb. 18), „[d]ies dürfte eins der komischsten Fotos sein, die je gemacht wurden“ (33), „[d]as bezauberndste Element ist das neugierige Schaf auf seinen dürren schwarzen Beinen, die dem Stativ ähneln, das neben dem Amateurfotografen liegt“ (28), „das Augenmerk liegt auf der einfühlsamen Geometrie der Gliedmaßen“ (29), „[d]iese Tasse Tee beendete die lange Suche Parrs nach dem perfekten Gebräu“ (38).
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Martin Parr: Mädchenschule in Malvern, Worcestershire, England 1986_89,
aus der Serie: „The Cost of Living“ (Abb. 18) |
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Vor allem verharrt die Autorin ständig bei Identifizierungen, tut kund, was sie in den Aufnahmen zu sehen meint, und ersetzt jegliche Analyse durch die Vergabe von Prädikaten. Phillips wagt keinen Blick über den Bildrand hinaus, obgleich Parrs Fotografien geradezu einladen, den Schauplatz zu erweitern, über den Ausschnitt hinaus zu sehen, den Blicken und Wendungen der Modelle zu folgen und über ihre Haltungen und ihr Aussehen Vermutungen anzustellen. Sitzt da noch ein Gast im Lokal, auf dessen Tisch die Aufwartefrau zusteuert? Will der starr geradeaus schauende Junge nicht mehr seiner Mutter zuhören, die auf ihn einredet? Was bewegt den jungen Mann, der an einem Stapel mit Bierflaschen lehnt und die Hand über ein Auge gelegt hat? Das Besondere an Parrs Aufzeichnungen ist nicht zuletzt das erzählerische Moment, das ihnen anhaftet – als ob man in eine Handlung versetzt würde, von der man Anfang und Ende nicht kennt, und sich zusammenreimen müsste, was davor geschehen ist und wie es weitergehen könnte. Dies ist neben dem kritischen Impetus die poetische Seite in Parrs Arbeiten, von denen man sich noch mehr Wiedergaben und eine sachkundige textliche Begleitung gewünscht hätte.
Zitierte Literatur
„Beyond Caring. Ein Interview mit Paul Graham / an interview with Paul Graham“ (1986), Übersetzung: Wilfried Prantner, in: Camera Austria , Nr. 25, 1988, S. 48 f.
Die Abbildungen sind Wiedergaben aus dem besprochenen Band. Februar 2008
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© Timm Starl 2008
PDF - 353kb
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