Fotokritik |
Timm Starl
Volkskundliche Bilder in kulturwissenschaftlicher Sicht
Ulrich Hägele
Foto-Ethnographie
Die visuelle Methode in der volkskundlichen Kulturwissenschaft
Mit einer Bibliographie zur visuellen Ethnographie 1839 – 2007
Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 2007
29,7 : 21,2 cm, 420 S., 352 meist schwarzweiße Abb.
Broschiert
€ 36,-
Auf einer volkskundlich ausgerichteten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 2004 in Wien trat eine Kunsthistorikerin auf und bemängelte in ihrem Referat die Art und Weise, wie das Österreichische Museum für Volkskunde ihr Fotoarchiv organisiert habe. Seit der Gründung 1895 seien Abzüge gesammelt worden und diese hätte man in der Reihenfolge der Eingänge nummeriert und aufbewahrt, so dass sich die Suche nach Bildautoren oder Aufnahmeorten, vor allem aber nach Themen und Motiven als äußerst mühsam erweise. In dieser Schelte tritt nicht nur der Anspruch einer Disziplin hervor, die im Umgang mit Bildern ausschließlich ihre Maßstäbe gelten lassen möchte. Sondern dahinter verbirgt sich auch die Unfähigkeit, jene sich im Laufe der Jahre ändernden Bedingungen hinsichtlich Kenntnisstand und Vorlieben der Kuratoren, Marktsituation und Erwerbsmittel des Museums als relevante Größen anzusehen. Historischen Fotografien sind jedoch – wie auch anderen Artefakten – nicht nur die gestalterischen und ökonomischen Absichten des Produzenten eingeschrieben, sondern auch die Modalitäten des zeitgenössischen Gebrauchs. Wozu nicht zuletzt die museale Praxis zählt – sonst wären die Stücke gar nicht überliefert worden.
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Anonym: Aufruf für Foto-Amateure: „Marterln in der landschaftlichen Umgebung“, 1896 (S. 65) |
Raymond de Smet: „Heuwenderin“, 1901 (S. 37) |
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Auch deshalb gehen sammlungs- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte immer wieder in die Überlegungen von Ulrich Hägele ein, wenn er den Verschränkungen von Fotografie und Volkskunde vom 19. Jahrhundert bis heute nachgeht. Ja, er bedient sich vornehmlich eines Bildmaterials aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, das der ehemaligen Verwertung Rechnung trägt, und konzentriert sich auf „Originalabzüge aus Museen und Archiven sowie Fotografie als illustrierte Veröffentlichung“ (19). Ein solcher Ansatz empfiehlt sich ohnehin bei all jenen Fächern, die im 19. Jahrhundert kreiert worden sind und sich – sei es auf universitärer oder musealer Basis – mit Bildern beschäftigt haben. Verfolgt man die Geschichte der Sammlungsaktivitäten, kann auch der Versuch unternommen werden „zu veranschaulichen, dass die Volkskunde erst zu einem systematisierenden wissenschaftlichen Arbeiten gefunden hat, indem sie Vergangenheit umfassend visualisierte.“ (19). Um des weiteren „die Möglichkeiten und Grenzen der ikonologischen Methode für die Volkskunde/Empirische Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie im Rahmen einer Visuellen Kulturwissenschaft auszuleuchten“, bedarf es weiterer Voraussetzungen. Dazu gehört ein ebenso offener Begriff von Volkskunde wie von Bild, indem beispielsweise die wissenschaftliche wie die private Beschäftigung mit Thema und Fotografie ohne Rangordnung angesehen werden. Ebenso breit angelegt haben die Methoden der Quellenkritik und Bildanalyse zu sein. Nicht zuletzt darf sich die theoretische Fundierung nicht allein aus volkskundlichen und medienspezifischen Überlegungen ergeben, sondern muss aus einer Diskursanalyse von kultur-, kunst- und bildwissenschaftlichen Bestimmungen hervorgehen.
Hägele erreicht trotz hohen Anspruchs sein Ziel ebenso zielstrebig wie gemächlich. Gewählt wurde die Teilung in drei chronologisch angeordnete Abschnitte unter den Stichwörtern „Sinnstiftung“ (bis zum Ersten Weltkrieg), „Ideologisierung“ (bis Anfang der 1950er Jahre) und „Professionalisierung“ (bis dato). Damit sind zugleich Schwerpunkte der Betrachtung gegeben, nämlich die unsystematische und zögernde Inanspruchnahme fotografischer Zeugnisse für die „sich formierende Wissenschaft“ (70); die Kooperation des Faches an Universitäten und Museen mit staatlichen Organisationen für propagandistische Zwecke; die sukzessive Erarbeitung quellenkritischer Standards und „Verfahren der Foto-Ethnographie“ (301). Die zahlreich aufgespürten Quellen und das verwendete Instrumentarium, um diese kritisch zu befragen, bereiten eine geradlinige und schnörkellose Strecke, an deren Ende das Konzept einer Visuellen Kulturwissenschaft aufgeht.
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Hans Retzlaff: „Klaus und Peter trinken folgsam ihre Milch“, um 1939 (S. 152) |
Gregory Bateson: Mädchen bei einer Hochzeitszeremonie, Bajoeng Gede/Bali, 14. April 1937 (S. 247) |
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Das Tempo wird bestimmt von der erheblichen Anzahl von Beispielen und Personen, die manchmal bloß genannt, vielfach aber auch ausführlich behandelt werden. Dabei holt der Autor gelegentlich weit aus, wenn er beispielsweise die schottischen Fischer in den Kalotypien von David Octavius Hill und Robert Adamson aus den 1840er Jahren als volkskundliche Motive einführt (48) oder Robert Frank ausnehmend viel Platz für sein in den 1950er Jahren durchgeführtes Projekt „The Americans“ einräumt (262 bis 264). Doch die Anführung mannigfacher Prominenz wird mehr als wettgemacht durch die Vorstellung von Personen und Arbeiten, die in den einschlägigen Publikationen ansonsten selten oder keine Erwähnung finden. Zu nennen wäre Berthold Beiler mit seinen fototheoretischen Texten der 1960er Jahre (15), mit denen meist keine Auseinandersetzung erfolgt, nachdem ihm das Etikett des DDR-Autors verpasst worden ist. Oder Ellen Maas (18, 282 f.), deren Ausstellung und Katalog von 1975 ebenso wenig gewürdigt wird wie ihre Dozententätigkeit an der Universität Würzburg und vor allem auch ihre Leistung als Sammlerin, die aus ihrem Fundus von inzwischen etwa 100.000 Abzügen zahlreiche Forschungsvorhaben unterstützt hat. Analog gilt dies für volkskundliche Fotoprojekte, die bislang in der fotogeschichtlichen Literatur keine Beachtung erfahren haben, so unter anderem die Bilder von deutschen Trachten, die von Rose Julien Anfang des 20. Jahrhunderts angefertigt worden sind, oder jene von Josef Hanika aus den 1930er Jahren.
Andererseits darf nicht unerwähnt bleiben, dass ein wichtiger Bereich von Hägele nicht gesehen worden ist. Es handelt sich um die Aufnahmen von Peter Paul Atzwanger, Simon Moser, Rudolf Koppitz und anderen, die während der 1930er Jahre in den alpinen Regionen Tirols Land und Leute, insbesondere Arbeit und Freizeit der Bergbauern fotografisch festgehalten haben. Im Ständestaat als Heimatfotografie geschätzt und in zahlreichen Bildbänden und Zeitschriften verbreitet, wurden sie von 1938 an von den Nationalsozialisten in ihre propagandistischen Dienste genommen.
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David Bradford: „Passanten in New York“, 1990er Jahre (S. 293) |
Deborah Bohnert: Fototagebuch, 1998
(Umschlag, Ausschnitt) |
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Man muss nicht alle Einschätzungen Hägeles teilen. Sein Vergleich der „völkischen Fotografie“ (198) einer Erna Lendvai-Dircksen mit den Hervorbringungen von Dorothea Lange im Rahmen des FSA-Projekts der 1930er Jahre in den USA leidet darunter, dass bei dem einen Werk mehr die propagandistisch-manipulativen (198 ff.), bei dem anderen die kompositorischen Momente hervorgehoben werden. Auch dem „Wechsel vom analogen zum digitalen Bild“ denselben Rang eines „Iconic Turn“ zuzuweisen wie dem „epochalen Sprung vom autografischen zum fotografischen Zeitalter im 19. Jahrhundert“ (300), kann ich schon deshalb nicht nachvollziehen, weil schriftliche und bildliche Aufzeichnung nicht undifferenziert unter dem Terminus der Sprache zu subsumieren sind und die Produkte der Kamera zudem einer begleitenden Legende bedürfen, um mehr zu bedeuten als selbstbezügliche Äußerungen.
Diese Einschränkungen sind allerdings gegenüber dem weiten Horizont, der mit diesem Standardwerk eröffnet wird – sowohl hinsichtlich der vorgestellten Wissenschaftler und Fotografen wie der unterschiedlichen Vorgehens- und Darstellungsweisen und nicht zuletzt wegen der kritisch unter die Lupe genommenen Positionen der Bild- und Fototheorie – ohne Belang. Schließlich wird eine komplexe Erörterung der Herstellung und Anwendung fotografischer Bilder mit volkskundlichem Gehalt im kulturwissenschaftlichen Kontext geboten. Und mit der Analyse und Argumentation auf historischer und theoretischer, fotografiegeschichtlicher und ikonologischer, biografischer und fachwissenschaftlicher Ebene wird eine transdisziplinäre Verfahrensweise exerziert, die heutzutage ebenso häufig gefordert wie selten eingelöst wird.
Sämtliche Abbildungen wurden aus dem besprochenen Band reproduziert.
Januar 2008
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© Timm Starl 2008
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