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Fotokritik

 

Timm Starl
Private Kostbarkeiten aus den USA

The Art of the American Snapshots 1888 – 1978
From the Collection of Robert E. Jackson
Sarah Greenough and Diane Waggoner
with Sarah Kennel and Matthew S. Witkovsky
Katalog zur Ausstellung National Gallery of Art, Washington 7. 10. – 31.12.2007 und
Amon Carter Museum, Fort Worth, 16.2. – 27.4.2008
Washington: National Gallery of Art in association with Princeton University Press, 2007
29,9 : 21,8 cm, 294 S., 315 Abb. in Farbe
Leinen, Schutzumschlag
$ 55,-

Das Motorrad, das in den 1930er Jahren an den Zuschauern vorbei rast, ist ebenso verzerrt wiedergegeben wie das Automobil, das Jacques Henri Lartigue bei einem Rennen 1912 festgehalten hat. Wenn der Matrose im April 1945 die Frau nach hinten beugt und küsst, so nimmt das Paar dieselbe Haltung ein wie jenes, das Alfred Eisenstadt im selben Jahr am V-Day in New York beobachtet hat. Der Mann, der 1956 die Kamera gegen die Auslage eines Geschäfts richtet, wird gleichermaßen zum Akteur innerhalb einer Straßenszene wie Lee Friedlander in zahlreichen Aufnahmen ab den 1960 Jahren, wenn er sich frontal gegenüber einem Schaufenster postiert und in der Spiegelung gleichermaßen erkennen lässt, was vor und hinter ihm zu sehen ist. Das Porträt der halbnackten Frau aus den 1940er Jahren ist überzeichnet und beschriftet, wie es Rebecca Horn mit einer Reihe von Bildpostkarten unternommen hat, die sie von den 1970er Jahren an an Freunde verschickt hat.
            Doch die erwähnten und weitere Ähnlichkeiten, die der Katalog bietet, entstanden nicht in Anlehnung an die Kreationen prominenter Fotografen oder Künstlerinnen, die den Produzenten zumeist gar nicht bekannt gewesen sein dürften oder ohnehin erst später an die Öffentlichkeit gelangt sind. Vielmehr verdanken sie sich dem Zufall, der insbesondere bei Knipserfotos häufig Regie führt. Das ästhetische Kalkül der privaten Amateure konzentriert sich nämlich darauf, Personen und Gegenstände ihres Interesses möglichst deutlich erkennbar in den Mittelpunkt eines Bildes zu stellen. Doch eine unvorhersehbare Gegebenheit, die nur beiläufige Beachtung der fototechnischen Belange, eine spontane Bewegung führen oftmals zu ungewollten Konstellationen im Bild, was die Autoren in der Regel nicht davon abhält, den Abzug aufzubewahren. Denn dieser birgt – unabhängig von seinen formalen Attributen – Erinnerungen, die der außen Stehende nicht zu erkennen vermag und daher solche Aufnahmen gerne als misslungen qualifiziert.

 

Anonym Anonym Anonym
Anonym: Grand Canyon, 1927 (S. 106) Anonym: ohne Titel, 1930er Jahre (S. 144) Anonym: „?!!“, 1930er Jahre (S. 118)

 

           Nicht zufällig sind jedoch jene Produkte, die an die Bildschöpfungen bekannter Fotokünstler erinnern, in die Kollektion von Robert E. Jackson und in die vorliegende Veröffentlichung geraten. Denn weder der Sammler noch die Kuratorinnen der National Gallery of Art in Washington können die „Snapshots“ anders sehen als in Relation zu den Hervorbringungen der „fine art photography“. Auch wenn Sarah Greenough in der Einführung und Jackson im Nachwort die Besonderheiten privater Bildentwürfe hervorheben und entlang mehrerer Porträts aus einer Hand eine biografische Skizze versucht wird, dienen zur Kategorisierung immer wieder die Differenzen gegenüber einer Fotografie, die mit dem Etikett des Künstlerischen beziehungsweise Professionellen ausgezeichnet ist. Selbst die Erkenntnis, dass Knipserbilder ähnlich einem Tagebuch der Konstituierung einer individuellen Geschichte dienen und ein Terrain des Privaten abstecken, hält Autorinnen und Autoren nicht davon ab, bei ihrer Einschätzung ästhetischen Kriterien den Vorzug zu geben.

 

Anonym Anonym
Anonym (Poland): ohne Titel, Maine,
1930er Jahre (S. 95)
Anonym: „Mary Girow's Cadillac“,
9. September 1956 (S. 159)

 

           Wenn auch eine solche Orientierung dazu führt, dass in den Texten kaum Neues zur privaten Produktion vorgetragen wird, beschert sie uns doch eine bemerkenswerte Ergänzung des Bilderkosmos der Fotografie. Denn nicht das Spektrum an Themen und Motiven samt deren Häufigkeiten und Inszenierungsmustern wird vorgeführt, sondern die Abbildungen – bis auf die Albumseiten in der Größe der originalen Abzüge – bieten durchwegs Besonderheiten dar. Dazu zählen zuvorderst kurios wirkende Situationen, weiters unbeabsichtigte Doppelbelichtungen, Silhouettenporträts, eigenwillige Beschriftungen, Doppelgängerbilder, ungewollte Anschnitte und nicht zuletzt die eingangs angeführten Anklänge an geläufige Bilder. Die Knipserfotografie erfährt dieserart ihre Bestimmung an den raren Erscheinungen, die Ausnahmefälle charakterisieren das Genre an dem, was es gemeinhin nicht ist. Dem Betrachter der Abbildungen beschert diese Auslese allerdings eine so außergewöhnliche wie faszinierende Studie zur Fotografie mit ihrer motivischen Breite und ihren gestalterischen Potentialen.

Anonym Anonym Anonym
Anonym: ohne Titel,
Dezember 1958 (S. 166)
Anonym: ohne Titel,
Oktober 1954 (S. 188)
Anonym: „Hazel Bauer“,
1960er Jahre (S. 255)

 

           Ebenso einseitig wie bei der Bildauswahl sind die Herausgeberinnen bei den Hinweisen zur Entwicklung der Fototechnik vorgegangen. „We begin our study in 1888 with the release of the first Kodak camera [...]“, heißt es zu Beginn des Bandes. Und am Ende werden als „Technical Milestones in Snapshot Cameras and Films“ nahezu ausschließlich Erzeugnisse derselben Firma präsentiert, nachdem im Hauptteil mehrfach Wiedergaben von Anzeigen und Werbemittel aus dem Hause Kodak eingeschoben sind. Zudem wird in den Textbeiträgen an diversen Stellen darauf abgehoben, dass jeweils technische Innovationen der Praxis der Knipser voran gegangen wären. Als würden nicht die Bildbedürfnisse der Zeitgenossen ebenso auf die industriellen Strategien einwirken wie umgekehrt. Wobei doch gerade das vorgelegte Bildmaterial eher annehmen lässt, die Fortschritte in der Kamerakonstruktion und beim Aufnahmematerial seien wohl kaum verantwortlich gewesen für diesen oder jenen Impuls zu fotografieren und für die Art und Weise der Aufzeichnung. Format, Blitzlicht, Kameramodell, Autofocus, Platte und Rollfim, Polaroid usw. haben nur selten jemanden zu einer bestimmten Aufnahme veranlasst oder ihn von einer solchen abgehalten. Der kreative Geist der privaten Chronisten ist anders geartet und speist sich primär aus der Beziehung zu den Erscheinungen, denen er begegnet – auch das ist den Illustrationen dieses schön aufgemachten Buches abzulesen.

Sämtliche Abbildungen wurden aus dem besprochenen Band reproduziert.

Januar 2008

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© Timm Starl 2008

PDF - 522kb

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