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Fotokritik

 

Timm Starl
Höhenkunst
Zur Rezeption einer Sicht von oben

Eduard Spelterini
Fotografie des Ballonpioniers / Photographs of a Pioneer Balloonist

Hrsg. von /Ed. by Thomas Kramer und / and Hilar Stadler
Mit Beiträgen von / With contributions by Alex Capus, Hubertus von Amelunxen, Stephan
Wottreng und / and Henry Wydler
Ausstellungskatalog Museum im Bellpark, Kriens
Zürich: Scheidegger & Spiess, 2007
35,3 : 28,5 cm, 147 (+1) S., 102 Abb.
Gebunden, Schutzumschlag
€ 65,-, SFR 98,-

Die Kunstgeschichte, die gern in Epochen denkt, und deren Vertreter, die sich der Fotografiegeschichte annehmen, haben die Moderne der Fotografie in den 1920er Jahren beginnen lassen. Damit folgt das Schaffen der avantgardistischen Fotokünstler des Neuen Sehens auf Kubismus, Konstruktivismus und andere Stilentwicklungen der Malerei, auf die sie bezogen werden können. Neue Sichtweisen haben sich jedoch bereits in den 1880er und 90er Jahren konstituiert, und zwar auf breiter Ebene. Und sie sind für ihre Zeit durchaus als modern angesehen, wenn auch nicht mit diesem Etikett ausgezeichnet worden. Das lag vor allem auch daran, dass die Kommentatoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit anderen Begriffen operiert und die Kunstkritiker nur einer einzigen Sparte, nämlich der piktorialistischen Fotografie, ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. Die Autoren aus den Reihen der Berufsfotografie wiederum polemisierten gegen die Konkurrenz der Amateure und Knipser und nahmen Entwicklungen, die ihre Profession nicht direkt betrafen, kaum zur Kenntnis. So wurden beispielsweise die Fotografie mit X-Strahlen (Röntgen), Kurzzeitaufnahmen (Mach) und Reihenfotografie (Muybridge) als technische Errungenschaften registriert und in der Bildpostkarte lediglich die ökonomischen Vorteile gesehen. Dem ausgehenden Jahrhundert fehlten – könnte man sagen – die Interpreten, die imstande waren, das gleichzeitige Auftreten neuer fotografischer Sichtweisen auf einen ästhetischen Begriff zu bringen.

 

Eduard Spelterini El Lissitzky László Moholy-Nagy
Eduard Spelterini: „Über dem Gaswerk der Stadt Zürich in Schlieren [...]“, 1910 (aus dem besprochenen Band, S. 136) El Lissitzky: Stadt, 1919/20 (aus: Die grosse Utopie. Die russische Avantgarde 1915 – 1932, Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main 1992, Abb. 200) László Moholy-Nagy: Blick vom Berliner Funkturm, um 1928 (aus: Andreas Haus, Moholy-Nagy. Fotos und Fotogramme, München: Schirmer/Mosel 1978, Abb. 40)

 

           Zu den Neuerungen des Fin de siècle zählte auch die Fotografie vom Ballon aus, die – Ende der 1850er Jahre erstmals praktiziert – in den 1880er Jahren starke Verbreitung gefunden hat. Ihre ästhetischen Dimensionen wurden jedoch gering geschätzt, wie beispielsweise in einem Aufsatz von 1911. Wohl kennt der Autor „Spelterinis prachtvolle Alpenaufnahmen“, bemerkt aber bereits im darauf folgenden Satz: „Vom rein ästhetischen Standpunkt betrachtet, haben die Aufnahmen aus der Vogelperspektive keinen großen Wert.“ (8) Erst in den 1920er Jahren fand die Luftbildfotografie Rezensenten, die in ihr nicht nur den Nutzen für militärische Aufklärung und kartografische Vermessungen sahen. Auch billigten sie den Bildern mehr zu als die Floskeln von der Schönheit und Erhabenheit, mit denen sie davor von der Tagespresse bedacht worden waren. 1921 erscheint in der Zeitschrift Photographische Rundschau und Mitteilungen ein Text unter dem Titel „Die neue Höhenkunst“, der das „Luftbild [...] als photographisches Kunstwerk“ (76) würdigt.
           Als sich solche Anschauungen nach dem Ersten Weltkrieg durchsetzten, hatte ein anderer Schweizer Eduard Spelterini (1852 – 1931) als populären Ballonfahrer bereits abgelöst. Dessen herausragende Leistung, 1898 als erster Aeronaut die Alpen überquert zu haben, übertraf  Walter Mittelholzer (1894 – 1934), nachdem er 1927 Afrika als erster in nord-südlicher Richtung überflogen hatte. Die Fotografien, die auf seinen Reisen entstanden, wusste er zu vermarkten, nachdem er bereits 1919 einen Luftbildverlag gegründet hatte. Die fotografischen Leistungen Spelterinis waren dagegen ohnehin nie richtig gewürdigt worden, denn in den Lichtbildervorträgen reizte die Zuhörer vermutlich mehr die abenteuerliche Seite des Fliegens als die kompositorische der Flugaufnahmen. Und die erste Buchveröffentlichung erschien erst 1928 und konnte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit außergewöhnlichen Perspektiven aufwarten. Auch in den Fotogeschichten – ausgenommen den schweizerischen – taucht Spelterini höchst selten auf, zumal er nicht zu den Pionieren gehört hat, die vom Ballon aus fotografisch tätig geworden sind. Zwar hatte er bereits in den 1870er Jahren die ersten Aufstiege absolviert und verfügte 1887 über den ersten eigenen Ballon, doch wurde erst 1893 die Kamera mitgenommen, als er über Winterthur, St. Gallen und Zürich aufgestiegen ist.
           Die Texte von Alex Capus und Stephan Wottreng sowie eine Zusammenstellung von Henry Wydler informieren über die Projekte und Absichten des Ballonfahrers. Man erfährt ausreichend biografische Einzelheiten, lernt die Ausstattung samt fotografischer Ausrüstung eines Ballons kennen, wird über die touristische, militärische und wissenschaftliche Ausrichtung von Spelterinis Fahrten informiert, weiß schließlich die Namen aller eigenen Gefährte sowie die Routen, die zurückgelegt, und die Höhen, die erreicht worden sind, hat zahlreiche großformatig und gut gedruckte Wiedergaben gesehen, die nach den originalen Glasplatten entstanden sind. Doch stehen die aeronautischen wie die fotografischen Aktivitäten für sich und haben keinen Bezug zu anderen Protagonisten der Ballonfahrt und den fotografischen Hervorbringungen der Luftbildfotografie ihrer Zeit. Dazu kommt, dass die vorgestellten Aufnahmen nahezu ausschließlich aus den Jahren 1903 bis 1912 stammen, nur ein Bild wird mit Fragezeichen auf 1893 datiert, und zu zwei Bildern ist das Jahr 1922 unter Vorbehalt vermerkt. Die Kriterien, die dieser Auswahl zugrunde gelegen haben, erfährt der Leser leider nicht.
           Mit Hubertus von Amelunxen ist ein ausgewiesener Fotohistoriker und Medienwissenschaftler zur Mitarbeit gewonnen worden, der allerdings ein wenig flott seinen Gegenstand behandelt und findet: „[D]ie größe Leistung [...] war der Blick durch die Kamera in Höhen von bis zu 5000 Metern über der Erde.“ Die bildlichen Ergebnisse erfahren noch die Attribute der „Genauigkeit und Detailschärfe“ (129) und die Versicherung, es sei dem Fotografen „immer wieder [gelungen], den Motiven entsprechende Positionen einzunehmen.“ (139). Trotz des mageren Befundes rückt Amelunxen Spelterini „in die Nähe von der erst in den 1960er Jahren entstandenen Aerial Art eines Robert Smithson, Walter de Maria“ und anderer. Als würden die Kriterien und das Vokabular für eine Einordnung in die Zeit seines Wirkens fehlen, heißt es schließlich: „Tatsächlich lässt uns die Schönheit dieser Bilder verstummen.“ (131).
           Warum aber, wäre zu fragen, erleben die Dezennien um 1900 eine derartige Konjunktur an Exkursionen in die Lüfte? Und weshalb war fast immer eine Kamera an Bord der Ballone, wenn dies nicht auf einen Bildbedarf schließen ließe, der regelmäßig befriedigt sein wollte, was nach der Jahrhundertwende in illustrierten Zeitschriften und Büchern seinen Niederschlag fand. Es können nicht allein die Ansichten unbekannter Gegenden und die ungewohnte Perspektive gewesen sein, die bei den Zeitgenossen Interesse hervorgerufen hat. Der Blick von der Gondel erreichte nicht nur ferne und dieserart nie dargestellte Objekte, sondern die Bilder verwiesen auch auf einen besonderen Standort. Die Eroberung der dritten Dimension ermöglichte zugleich eine Abkehr von den alltäglichen Fährnissen, von einer Gegenwart, die gezeichnet war vom Niedergang einer Epoche. Dieser machte sich bemerkbar in der allgemeinen Nervosität, die vor allem die Städte beherrschte, und einer Orientierungslosigkeit sowohl der herrschenden Figuren wie der Zeitgenossen aller Schichten und Klassen. Georg Simmel hat 1895 den Zusammenhang in einem metaphorischem Bild aufgedeckt: „Je ruheloser, ungewisser, gegensatzreicher das moderne Dasein wird, desto leidenschaftlicher verlangt uns nach Höhen, die jenseits unseres Guten und Bösen stehen [...] (94).
           Die Fahrt im Ballon, der dem Wind folgt und sich ohne Rauschen fortbewegt, versprach ein Fortkommen aus der urbanen Hektik, den rasch wechselnden Eindrücken und dem Lärm. Die Aufnahmen von Äckern und Wiesen, Siedlungen und Werkanlagen mit ihren Rhomben, Trapezen, Rechtecken und anderen geometrischen Figuren lassen die Eingriffe der Menschen als planvoll erscheinen und versehen die Bildobjekte mit dem Anschein der Berechenbarkeit und Vernunft. Zudem erscheinen die einzelnen Gegenstände im Blick nach unten aus großer Höhe nicht nur klein und weit entfernt, sondern auch alle Unbill und alles Rätselhafte verlieren an Größe und Bedeutung. Ein ganz ähnliches Erleben erwartete den Touristen, der in die Alpen reiste und die Einsamkeit und Ruhe der Bergwelt suchte. Die vermehrten Ausflüge zu alpinen Wanderungen und Kletterpartien, der Zulauf zu den einschlägigen Vereinen, die zunehmende Veröffentlichung von Fotografien aus den alpinen Regionen gingen zeitlich hand in hand mit der Begeisterung für die Höhenflüge, zunächst mit dem Fesselballon, dann mit lenkbaren Luftgefährten, schließlich mit dem Flugzeug.

 

Eduard Spelterini Eduard Spelterini
Eduard Spelterini: Gspaltenhorn, 12. August 1910 (aus dem besprochenen Band, S. 70) Eduard Spelterini: Johannesburg (?), 1911 (?) (aus dem besprochenen Band, S. 113)

 

            Spelterini verfügte über das akkurateste Mittel, um vom Boden abzuheben, und war nicht nur wegen seiner aeronautischen Erfolge eine berühmte Figur vor dem Ersten Weltkrieg, sondern etwas wie ein Prophet, der den Menschen eine neue Welt erschloss. Wer es sich leisten konnte, ließ sich von ihm in die Paradiese der Stille und Weitsicht entführen; die anderen mochten zumindest angesichts der Fotografien in der Phantasie eine Reise dorthin mitmachen. So geleiten die Bilder des Bandes – insbesondere jene aus den Alpen – nicht nur in eine Vergangenheit, in der neue Wege erschlossen wurden, um auf die Welt zu schauen, sondern ihnen sind auch die Sehnsüchte jener Zeit eingeschrieben, diese Welt gelegentlich hinter sich zu lassen. Und sie regen an, den Begriff der Moderne der Fotografie zu überdenken, ihn von den kunsttheoretischen Modellen zu lösen und mit foto- und kulturwissenschaftlichen Kategorien auszustatten.

Zitierte Literatur
H.W. von Dücker, „Die neue Höhenkunst“, in: Photographische Rundschau und Mitteilungen, 58. Jg., 1921, S. 70-76.
Herbert Silberer, „Photograph und Luftschiffer“, in: Wiener Mitteilungen aus dem Gebiete der Literatur, Kunst, Kartographie und Photographie, 16. Jg., 10. September 1911, S. 1-10.
Georg Simmel, „Alpenreisen“ (1895), in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, hrsg. von Heinz- Jügen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992 (Gesamtausgabe, Bd. 5), S. 91-95.

Dezember 2007

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© Timm Starl 2007

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