Fotokritik |
Timm Starl
„Ein Berichterstatter von Zuständen“
Paul Senn
Fotoreporter
Hrsg. von Markus Schürpf und Matthias Frehner
Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern und Schule für Gestaltung Bern und Biel, Bern
Zürich: Scheidegger & Spiess, 2007
28,2 : 23,6 cm, 238 S., 219 Abb., davon 40 in Farbe
Leinen, Schutzumschlag
SFR 78,-, € 50,-
Zwei Frauen stehen am Rand des Grand Canyon und drehen dem Fotografen den Rücken zu. Die Farben ihrer Kleidung harmonieren mit der Umgebung: Grün und Rosa dominieren. Der nahezu wolkenlose Himmel zeigt sich in einem milchigen Blau, wie auch die anderen Töne leicht verwaschen wirken. Die hinter dem Tal liegenden Felsmassive sind ganz nahe gerückt, und es entsteht der Eindruck, als handle es sich um eine gemalte Kulisse. Man meint, eine Filmszene vor sich zu haben, als Standfoto aufgezeichnet, nachträglich koloriert und im Lauf der Zeit verblasst.
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Paul Senn: Grand Canyon, USA, 1946
(aus dem besprochenen Band, S.187) |
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Die Aufnahme ist 1946 entstanden, stammt von Paul Senn (1901 – 1953) und ziert den Schutzumschlag der Monografie, die dem Leben und Werk des Fotografen gewidmet ist. Blättert man den Band durch, scheint das erwähnte Bild ganz untypisch für das sonstige Schaffen zu sein. Denn sein Interesse als „Photoreporter“, wie er sich selbst bezeichnet hat, galt nicht den bekannten Sehenswürdigkeiten in aller Welt und in seiner Schweizer Heimat, sondern den peripheren Erscheinungen jeder Ausrichtung. Senn fand seine Themen und Motive an Orten, die sich Zeitungsleute gewöhnlich nicht als Ziele wählen, und innerhalb jenes Teils der Bevölkerung, die keine Chronisten kennen. In Sizilien besucht er 1937 eine Schwefelmine und sieht die Kinder bei einer Arbeit, die sie krank macht. In den USA beobachtet er 1939 und 1946 die Schwarzen, die Amish wie die ausgewanderten Landsleute bei ihren alltäglichen Verrichtungen. In der Schweiz werden in den beginnenden 1940er Jahren Zöglinge in einer Zwangserziehungsanstalt und Mittellose ohne Arbeit fotografiert. In den Kriegen 1937 in Spanien und Anfang der 1940er Jahre in Frankreich sind es die Flüchtlinge und Internierten, auf die das Objektiv gerichtet wird.
Immer sind die Modelle eingebunden in die Welt, in der sie leben; da ist die Stube, der Garten, die Halle, das Feld, wo sie werken, sich ausruhen, essen und trinken; der Armeninspektor untersucht die Zähne eines Mädchens vor der Haustür, die Schafe werden vor den Schur im Bach gebadet, Chauffeure demonstrieren. Die Bergbauern treten nicht als Heroen der Arbeit auf, der Heuschlitten wird talwärts gesteuert, am Markt beendet eine lockere Umarmung den Handel. Auch kreiert Senn keine Typen; die Kinder ohne Elternhaus sehen nicht aus wie verhärmte Kreaturen; die Straßenmusikanten bieten ihre Künste als Familie dar, die spielend und singend ihr Brot verdient; die Auslandschweizerin trägt einen Kübel durch den Garten. Es ist eine gänzlich unprätentiöse Fotografie, praktiziert von jemandem, der die Menschen liebt und den Rändern der Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit schenkt, der jedoch weder Betroffenheit wecken will noch den Finger mahnend erhebt. Auch wenn der Schlafende auf dem Gehsteig einer New Yorker Straße an die toten Opfer von Weegee erinnert, die vor der Wasserspritze umherhüpfenden Kinder wie jene von Helen Lewitt in den Armenvierteln anmuten – es liegen keine gestalterischen Ähnlichkeiten vor, sondern es tritt die Atmospäre eines Milieus hervor, das die einen wie die anderen aufgespürt und mit ihren je eigenen Mitteln ins Bild gesetzt haben.
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Paul Senn: Die 12jährige Madelon reitet [...] vom Feld heimwärts, Evolène, Wallis, um 1940 (aus dem besprochenen Band, S. 83) |
Paul Senn: Sport-Angler in Noli, Italien, 1948 (aus dem besprochenen Band, S.177) |
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Die besondere Auffassung der vorgefundenen Gegebenheiten und der Unterschied gegenüber den fotografierenden Zeitgenossen offenbart sich in dem Band Bauer und Arbeiter von 1943, der einzigen Buchpublikation, die Senn realisieren konnte. Was die Menschen bewegt, worauf sie schauen, wie sie etwas tun, ist wichtig – nicht die Formen der Verhältnisses untereinander, zu den Dingen und zur Umgebung, sondern die Art der Beziehungen und wie sich diese in Miene und Haltung ausdrückt. Sein Arbeiter unterwirft sich nicht der Technik wie bei Jakob Tuggener, der im selben Jahr unter dem Titel Fabrik eine Bildsammlung herausgibt, in der die Faszination für die Dinge den Werktätigen eine Nebenrolle zuweist. Sondern bei Senn sind Maschinen und Werkzeuge Mittel, um etwas zu produzieren, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die junge Frau in der Munitionsfabrik beugt sich konzentriert über eine Lupe, wenn sie den Zeitzünder der Granate einstellt. Und der mit dem Rechen das Heu sammelnde Mann agiert am Bildrand, von schräg oben gesehen, vor einem Dorf weit unten im Tal und den begrenzenden Bergen. Während die ackernden und mähenden Bergbauern der Tiroler Fotografen wie Simon Moser gegen den Himmel abgelichtet und zu Sinnbildern der Kraft und Bodenständigkeit stilisiert werden.
Auch wenn gelegentlich Szenen voller Dynamik Schnappschüsse erfordern, so ist Senn kein Fotograf des Ereignisses, des entscheidenden Augenblicks, der plötzlichen Bewegung. Vielmehr hat Arnold Kübler im Vorwort zu Bauer und Arbeiter treffend konstatiert, er sei eher „ein Berichterstatter von Zuständen als von Vorfällen“. Dies zeigt sich insbesondere, wenn – und es kommt über die ganzen Jahre sehr häufig vor – seine Modelle für sich, wenn sie mit den Gedanken wo anders sind, wenn sie nachdenken, zuschauen, schreiben, beten, lesen oder Radio hören. Dann ist die Fotografie auf das zurück geworfen, was ihr einzig möglich ist: die Fassade abzubilden. Der Porträtierte ist gewissermaßen abwesend, er sieht nicht in die Kamera und beachtet die Person dahinter nicht – er ist mit etwas anderem beschäftigt.
Dieses Andere ist jedoch im Bild nicht zu erkennen, nur ein verhangener Blick oder wenn dieser sich auf etwas richtet, das der Ausschnitt verheimlicht, verrät seine Gegenwart. Wenn beispielsweise die wartenden Männer und ihre Begleiterinnen am Tag der Mobilmachung 1939 vor sich hinschauen, als würden sie die Zukunft abtasten nach etwas, das Halt verleiht, nach dem Überleben, nach Gewissheiten. In die Reihe solcher Bildentwürfe reiht sich auch die Aufnahme des Grand Canyon mit den beiden Frauen, deren Gesicht wir nicht sehen und daher nicht erkennen, worauf der Blick gerichtet ist. Dann ist es so, als begänne die Fotografie eine Geschichte zu erzählen und hielte auf einmal inne. Solche Aufnahmen haben etwas Träumerisches an sich, und sie laden den Betrachter zum Träumen ein. Dieses Angebot, das einer Aufforderung gleichkommt, und die Stille, die sich während Lektüre da und dort auftut, zeichnen viele Arbeiten von Paul Senn aus und machen ihn zu einem bemerkenswerten Lichtbildner.
Die Texte der Monografie werden ihrem Protagonisten und seinem Werk auf besondere Weise gerecht. Sie nähern sich dem Leben wie den Bildern vor dem Hintergrund ihrer Zeit, argumentieren zunächst historisch, bevor ästhetische Wertungen vorgenommen werden. Für eine Einschätzung von Autor und Werk sind also primär Kategorien maßgebend, die sich aus dem Umfeld, in dem Senn gearbeitet hat, und den Umständen, unter denen er den Menschen begegnet ist, ergeben – und erst in zweiter Linie aus den gestalterischen Mitteln, die von ihm angewendet worden sind. Ein solcher Zugang unterscheidet sich angenehm von der üblichen fotohistorischen Literatur. Und auch die Diktion ist eine andere – sie kommt ohne die Stereotypen der Kunst- und Fotohistoriografie aus –, was das Lesevergnügen erhöht und die Ausführungen für einen größeren Kreis zugänglich macht.
August 2007
Veröffentlicht auch in: Fotogeschichte , Heft 106, 27. Jg., 2007
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© Timm Starl 2007
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