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Fotokritik

 

Timm Starl
Unbekannte Bilder und eine andere Geschichte vom Krieg

Anton Holzer
Die andere Front
Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg
Mit unveröffentlichten Originalaufnahmen aus
dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek
Darmstadt: Primus, 2007
29,5 : 22,3 cm, 368 S., 520 S/W-Abb.
Gebunden, Schutzumschlag
€ 39,90, SFR 66,70

„Historische Fotografien bilden [...] eine Art Traumprotokoll der Geschichte. Sie sind bildliche Niederschriften, die immer mehr und immer auch anderes festhalten, als das, was der Fotograf bewusst aufnehmen wollte. Fotografien sind also durch einen Überschuss an Bedeutung gekennzeichnet [...]“ (325). Dieser Überschuss resultiert zunächst aus der Differenz zwischen den unterschiedlichen Fähigkeiten von Auge und Kamera, im Augenblick des Auslösens dieselbe Menge an Objekten und Konstellationen gleichzeitig registrieren zu können. Damit kommt der Zufall ins Spiel, der bewirkt, dass im Bild auch das festgehalten wird, was zwar die Apparatur, nicht aber sein Autor wahrgenommen hat. Daraus speist sich der ästhetische Reitz vieler Aufnahmen; in diesem Mehr an Details ortet mancher Betrachter die Kleinigkeit oder Nebensächlichkeit, die ihn zu einer Reihe von Assoziationen beflügeln; und der Historiker vermag den unbeabsichtigten Konnotationen zusätzliche Informationen zu entnehmen, die über die Intuitionen des Bildautors hinaus in die Bilder eingegangen sind. Bei intensiver und kritischer Betrachtung erweist sich, dass gegenüber den schriftlichen Aufzeichnungen „die Fotografie ebenfalls Geschichte schreibt und erzählt – oft eine ganz andere als jene, die wir aus den herkömmlichen Quellen kennen.“ (323).

 

Anonym Schuhmann
Anonym: „Nikitas Todesritt“, Schneemann in Kolomea (Kolomija), Ostgalizien, Jahreswechsel 1915/16, vermutlich erste Januarwoche 1916 (aus dem besprochenen Band, S. 9) Schuhmann (vermutlich Ludwig): Kaiser Karl während der Frontreise in die Dolomiten, Vielgereuth (Folgaria), 15. Mai 1917 (aus dem besprochenen Band, S. 62)

 

             Wie Anton Holzer den Bildern ihre verborgenen Bedeutungen entlockt, macht er in der Einleitung an einem trivialen Motiv, das auf den ersten Blick lediglich kurios anmutet, deutlich. Es handelt sich um eine „aus Schnee geformte Figur, die auf einem Schwein sitzt. [...] ‘Nikitas Todesritt' – so lautet die Beschriftung dieses Fotos, das im Ersten Weltkrieg im östlichen Kriegsgebiet [...] in der galizischen Stadt Kolomea [...] vermutlich in den ersten Januartagen 1916 [...] aufgenommen wurde.“ (8). Die nur mehr teilweise erhaltene Aufschrift „... er nach Albanien“ auf dem neben der Schneefigur befindlichen Gebilde führt zur Annahme einer Prophezeiung, dem ‘russischen Schwein‘ werde es ergehen wie den gegnerischen Truppen auf dem Balkan, die von der k.u.k. Armee besiegt worden sind. Nachdem Holzer das Bild in einer österreichischen Tageszeitung veröffentlicht hatte, wies ein Leser darauf hin, dass der montenegrinische König Nikolaus I. dargestellt sei. Eine Karikatur auf einer Kriegspostkarte, die sich davon unabhängig erhalten hat, verhöhne dessen Flucht ins Ausland – mit dem ‘Schneekönig' verbinde sich also der Triumph über den flüchtigen Herrscher.
             Um zu einem historisch relevanten Befund zu kommen, bedarf es unterschiedlicher Blickwinkel und mehrerer Nachfragen: Identifizierung der dargestellten Personen und Situationen, Ermittlung der Einzelheiten und Andeutungen im Bild, Rekonstruktion der allgemeinen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse, Behandlung des Themas in anderen Medien, Überprüfung der Genauigkeit und Tendenzen der Bildlegende, Heranziehung schriftlicher und grafischer Quellen usw. usf. Zweifel sind immer angesagt, auch als gesichert geltende Annahmen müssen gelegentlich revidiert werden. Kennt man wie im gegebenen Fall den Autor nicht, ist den Absichten des Auftraggebers und den Gründen nachzugehen, die zu einer Veröffentlichung geführt oder diese verhindert haben. Nicht zuletzt können die Entscheidungen, weshalb Bilder in Archive und Sammlungen überführt und später publiziert worden sind, zu weiteren Aufschlüssen führen.

 

Anonym Anonym
Anonym: Sappeur Thomas Piegl von der Sappeur-Kompanie I/IV mit der kleinen silbernen Medaille, aufgenommen vermutlich bei Tolmein (Tolin), Isonzofront, vermutlich im September/Oktober 1915 (aus dem besprochenen Band, S. 86) Anonym: Italienische Soldaten, die an der Isonzofront, am Ravelnik, in der Nähe von Flitsch (Bovec), gefangen genommen wurden, aufgenommen vermutlich Ende September 1915 (aus dem besprochenen Band, S. 175)

 

             Auf all diese Aspekte einzugehen, wird umso dringlicher, wenn es sich um Bildmaterial handelt, das in propagandistischer Ansicht angefertigt oder veröffentlicht worden ist. Holzer hat für seine Darstellung auf den Bestand von rund 33.000 Originalglasplatten und die dazugehörigen Abzüge zurückgegriffen, die aus der Fotosammlung des k.u.k. Kriegspressequartiers stammen und im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien lagern. Die Aufnahmen entstanden auf ost- und südosteuropäischen Kriegsschauplätzen, die Autoren rekrutierten sich aus den Lichtbildnern der militärischen Stellen, aus erfahrenen Pressefotografen mit entsprechenden Befugnissen sowie aus knipsenden Soldaten und Offizieren, auf deren Hervorbringungen gleichfalls vom Kriegspressequartier zurückgegriffen wurde. Da es sich zumeist um anonyme Bestände handelt, stehen keine Biografien und Dispositionen der einzelnen Bildautoren zur Verfügung, um deren politische Orientierung, gestalterische Eigenheiten, motivische Vorlieben usw. bei der Bildanalyse berücksichtigen zu können. Auch lässt sich der Grad an individueller Selbstzensur nicht feststellen, der sich aus den Forderungen und Vorschriften der militärischen Auftraggeber ergeben haben kann. Wie auch den Motiven oft nicht anzumerken ist, in welcher Distanz zur Front oder zu den entscheidenden Ereignissen die Aufnahmen entstanden sind, ob es sich um Schnappschüsse handelt oder Szenen gestellt wurden.
             Um der Frage nach „Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg“ nachzuspüren, hat der Autor einen einleuchtenden und zugleich nachvollziehbaren Weg eingeschlagen. Er geht nicht – wie es dem üblichen Prozedere in zeitgeschichtlichen Darstellungen zumeist entspricht – von einer konkreten Situation in einem bestimmten Gebiet aus und sucht nach bildlichen Belegen, die diese bestätigen beziehungsweise die Aussagen stützen. Sondern aus dem Bildmaterial werden zunächst einzelne Aufnahmen oder Serien ausgewählt und, nachdem Orts- und Zeitangaben überprüft und gegebenenfalls korrigiert worden sind, nach den offensichtlichen Anlässen und implizierten Bedeutungen befragt. Diese werden ins Verhältnis gesetzt zur aktuellen militärischen Situation und den Wünschen der anfordernden Stellen. In einem weiteren Schritt wird nach Bildern gefahndet, die dasselbe Motiv aus anderer Sicht oder ähnliche Darstellungen an anderen Orten gewählt haben. Auf diese Weise entsteht ein komplexes Netz von sich stützenden und ausschließenden Daten, analogen und abweichenden Argumenten.

 

Anonym Anonym
Anonym: Schwerverwundete in der römisch-katholischen Kirche in Huta Nova, Bukowina, 11. Juni 1916 (aus dem besprochenen Band, S. 159) Anonym: „Görz, Corso Francisco 25. Das im zerschossenen Haus unbeschädigt gebliebene Marienbild“, 1915 (aus dem besprochenen Band, S. 264)

 

             Die Strukturierung der Kapitel erfolgt auch nicht nach geografischen, militärstrategischen oder zeitlichen Kategorien, sondern nach Bildthemen. Dazu gehören der österreichische Kaiser Karl und seine Inszenierung als Feldherr; die Darstellung von kommandierenden Offizieren und einfachen Soldaten; die Präsentation der verstümmelten Leichen der Feinde, die auf dem Schlachtfeld liegen, wogegen die Körper der eigenen Toten in den Kriegsgräbern und Denkmälern unsichtbar bleiben; die „Magie der Waffen“ (101), deren Gefährlichkeit bildlich gebannt erscheint, wenn ein Kind auf einem Blindgänger posiert; die Fotografie als wesentlicher Teil einer „optischen Aufrüstung“ (131), die mit Fernkameras, Luftbildern, Stereo- und fotogrammetrischen Aufnahmen Aufgaben der Aufklärung übernimmt und feindliche Ziele ausmacht und festhält; die Arbeit der Zensur und die Aussonderung von Bildern, weil sie beispielsweise den Rückzug eigener Truppen oder das Ausharren bei Kälte in den Schützengräben zeigen; Kriegsgefangene und Vertriebene, wobei die „Effizienz der Lagerverwaltungen“ (180) und die „Aufmerksamkeit der staatlichen Fürsorge“ (242) herausgestellt werden, jedoch die Ausbeutung durch Arbeit und das Sterben unbelichtet bleiben; die Mitwirkung der Frauen in der Rüstung und in der Etappe; die Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten und deren bildliche Typologisierung; Schlachtfelder und deren Vorstellung als meist leeren, „mythologischen Ort“ (304); bis hin zu den Kundgebungen nach dem Krieg und den Aufrufen „Nie wieder Habsburg!“ (308) und den Bildbänden der 1920er und 30er Jahre, in denen die Aufnahmen der Vorkommnisse und Protagonisten nach je unterschiedlichen Interessen eingesetzt werden.
             Den 15 Kapiteln sind drei vorangestellt, die der Arbeit der Kriegsfotografen, illustrierten Presse und der Fotoagenturen gewidmet sind und den Stellenwert der Bildpropaganda im militärischen Kalkül beleuchten. Die Zahl von sechs offiziellen Kriegsfotografen von Anfang 1916 hatte sich bis März 1917 auf elf erhöht; dazu kamen die Militärfotografen, wobei bis „Mitte 1918 [...] allein die Photostelle der 6. Armee auf einen Personalstand von 40 Berufsfotografen angewachsen war“ (35). Anfang 1917 hatte das Kriegspressequartier bereits 50.000 Aufnahmen gesammelt. Dieser Apparat und dessen Wirken sollten die „Versorgung der Presse mit Illustrationsmaterial garantieren“, was nach den Worten des Leiters der Fotoabteilung im Kriegsarchiv vom November 1916 den „hauptsächlichsten Zweck der Kriegsphotographie“ ausmache (35). „Und es ist kein leeres Wort“, setzte er fort, „wenn man die Photographie in dieser Hinsicht sogar als Kampfmittel bezeichnet.“ (36). Holzer weist entlang der Bilder und ihrer Verwertung schlüssig nach, dass mit dem Ersten Weltkrieg zugleich der erste große „Medienkrieg“ (17) ausgebrochen ist. Und seinen fotografischen Feldzügen verdanke der Bildjournalismus wie die fotografische Avantgarde der 1920er Jahre eine Reihe von Anregungen, ebenso zur Komposition – beispielsweise die Nähe zu den Objekten und die steilen Perspektiven – wie zur Aufmachung der Bilder in der illustrierten Presse.

 

Anonym
Anonym: „Gefallene[r] Italiener auf dem Mt. Spiel“, Hochplateau
von Asiago, 30. Januar 1918 (aus dem besprochenen Band, S. 291)

 

             Bildmaterial und Textquellen, Beweisführung und daraus resultierende Überlegungen werden in dem übersichtlich gestalteten Band auf ebenso eindringliche wie animierende Weise offeriert. Dazu bedient sich Holzer bei den Bildbeschreibungen, mit denen jeweils die Kapitel eingeleitet werden, eines sprachlichen Ausdrucks, auf den man in historischen Darstellungen gewöhnlich nicht trifft. Mit erzählerischem Geschick wird der Leser in das Bildgeschehen eingeführt. Ein Beispiel: „Ein Tag im Frühjahr 1916. Wir befinden uns im Grandhotel in Adelsberg (heute Postejna, Slowenien). Hier ist das österreichische Armeehauptquartier für die Italienfront untergebracht. Zu Besuch ist Alice Schalek, die Wiener Kriegsberichterstatterin und Fotografin, die in Karls Kraus' Die letzten Tage der Menschheit als kriegstreiberische Reporterin geschildert wird. Sie hat vor, ein Buch über den Krieg in Italien zu schreiben, [...]“ (76). Mit dem Präsens und dem “wir“, mit dem Holzer seinen lesenden Begleiter gewissermaßen unterhakt, führt er mitten in das Geschehen, das in den folgenden Passagen behandelt wird. Neugierig folgt man dem Autor, der uns nach Hinweisen auf die je gegenwärtigen Verhältnisse des Krieges und der Politik noch zu weiteren Aufnahmen mitnimmt. So liegt nicht nur eine vorzügliche Darlegung der propagandistischen Aktivitäten des Militärs der österreichisch-ungarischen Monarchie vor, wobei mit einigen unbekannten Fakten aufgewartet wird und diese zusammen mit den zumeist unveröffentlichten Fotografien den Ersten Weltkrieg in mancher Hinsicht in ein neues Licht stellen. Sondern es wird auch beispielhaft ‘vorexerziert', wie Fotografien zu ‘lesen' sind und damit für die Geschichtswissenschaft ein Modell entwickelt, nach dem diese Bilder zukünftig als Quellen einbezogen werden können. Nicht zuletzt sind die Recherchen und Erkenntnisse spannend und eloquent vorgetragen, so dass man gleichermaßen mit einem höchst lesenswerten Geschichtswerk wie mit einem wertvollen Beitrag zur Fotografie konfrontiert ist.

Mai 2007

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© Timm Starl 2007

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