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Fotokritik

 

Timm Starl
Wie die Fotografie in einem Kunstlexikon wegkommt

Christoph Wetzel
Sachlexikon der Kunst
Mit 620 ein- und mehrfarbigen Abbildungen
Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2007
24,4 : 16,2 cm, 497 (+1) S., 1 Bl.
Gebunden
€ 39,90, SFR 69,40

„Das Lexikon ist ein Buch unserer Zeit“, meinte Gert A. Zischka, der 1959 einen Index Lexicorum , eine Bibliografie lexikalischer Nachschlagewerke, herausgegeben hat. Dies gilt selbstverständlich für jede Zeit, denn die jüngsten Entwicklungen und Ereignisse wollen in gewissen Abständen zusammengefasst und verzeichnet sein und manch angehäuftes Wissen erscheint nach geraumer Zeit entbehrlich und streichenswert. Jedes Lexikon besteht also – in den Nennungen, Betonungen, aber auch Auslassungen – aus einer Auswahl, also aus Wertungen. Was heute an einem Phänomen oder einem Geschehen der Gründerzeit von Bedeutung erscheinen mag, stimmt nicht überein mit dem, was ein Lexikon Anfang des 20. Jahrhunderts dazu vermerkt hat. Und ein Lexikon zur Elektrotechnik wird an der Glühlampe andere Aspekte herausstellen als ein Universallexikon. Erscheinen zwei Nachschlagewerke zur gleichen Zeit, so wird ihre größte Übereinstimmung in den gewählten Begriffen, den Orts- und Datumsangaben liegen und ihre geringsten in den Erläuterungen und Gewichtungen.
           All diesen Differenzen zwischen verschiedenen Ausgaben und Auflagen, Sachgebieten und Abgrenzungen, Beiträgen lebender und verstorbener Autoren nachzugehen, ist eine höchst spannende Unternehmung. Doch muss eine einzelne Publikation auch für sich beurteilt werden, beispielsweise welche Zugänge sie erlaubt oder welche Fragen sie nicht zulässt. Nachdem sich eine systematische Lektüre schon aus Zeitgründen verbietet, bleibt der exemplarische Zugriff auf einzelne Termini oder der gezielte auf einen überschaubaren Bereich. Was das vorliegende Sachlexikon mit seinen „über 2500 Bezeichnungen und Begriffen“ angeht, hat mich über die Handhabbarkeit hinaus interessiert, inwieweit die Geschichte der Fotografie im Rahmen der vergangenen und gegenwärtigen Kunstproduktion und -diskussion wahrgenommen wird. (Vorab wollte ich wissen, mit welchem Begriff von Geschichte operiert wird, musste aber feststellen, dass keine Notizen zu „Theorie“ und „Kunsttheorie“ enthalten sind.)
          Welchen Stellenwert der Autor der „Fotografie“ zuerkennt, offenbart sich bereits in jenen Begriffen, die unter dieser Eintragung verwendet werden und für die das Lexikon eigene Erläuterungen bereit hält: „Camera obscura“, „Daguerreotypie“, „Unikat“, „Keilschrift“, „Stilleben“, „Landschaft“, „Akt, „Porträt“, „Salon“, „Impressionismus“, und zuletzt „Film“. Mit dessen Aufkommen, also Ende des 19. Jahrhunderts endet die Geschichte der Fotografie. (Die Beschäftigung mit der Keilschrift hat man für so wichtig gehalten, dass sie im Zusammenhang mit Talbot Erwähnung findet, wogegen sein Interesse an der Astronomie nicht für nennenswert erachtet wird.) Als Zeitangaben scheinen auf:
• „14. Jh.“ (bis wohin sich „[d]ie Vorgeschichte“ zurückführen lässt);
• „16. Jh.“ (seither bestehe „die Kenntnis, dass Sonnenlicht Chlorsilber schwärzt“);
• „1825–30“ (es „entstanden Heliographien (griech. helios ‘Sonne') bzw. Daguerreotypien“, wobei die Beschaffenheit der erstgenannten nicht erklärt wird und der uninformierte Leser aufgrund des „bzw.“ annehmen muss, die beiden Begriffe bezeichneten dasselbe Verfahren, und denken wird, die ersten Daguerreotypien seien schon 1830 hergestellt worden);
• „1834“ (ab diesem Jahr entwickelt „Henry Fox Talbot [...] ein Verfahren der Umwandlung von Negativen in Positive“);
• „1939“ (soll 1839 heißen und das Jahr nennen, in dem die „Talbotypie (auch Kalotypie) [...] bekannt“ wurde);
• „1841“ („der erste Fotobildband“);
• „1842“ („Pariser ‘Salon'“, in dem eine Abteilung für Fotografie eingerichtet wird);
• „1872“ (beginnen die chronofotografischen „Versuche [...] von Eadweard Muybridge“).
Schluss! Neben Talbot und Muybridge werden keine weiteren Personen angeführt.
          Als Illustration wird eine undatierte Aufnahme von Eugène Druet beigegeben, auf der die Skulptur „Der Kuss“ von Auguste Rodin, entstanden 1901 bis 1904, zu sehen ist. Die Bildunterschrift spricht von einer „subtile[n] Lichtregie“ des Fotografen und enthält einen zweiten Absatz, der nicht vorenthalten werden darf: „Die 2005/06 in Berlin veranstaltete Druet-Ausstellung gehörte nicht allein zu den immer häufigeren fotografiegeschichtlichen Wiederentdeckungen, sondern stand in einer Berliner Museumstradition: 1901–03 hatte Direktor Hugo von Tschudi außer einigen Bildwerken Rodins auch 125 Fotografien Druets erworben – nicht zuletzt eine Anerkennung der ‘Reproduzierbarkeit von Kunst'.“ Die Fotografie hat also doch noch in unseren Tagen Bedeutung, allerdings nur in ihrer historischen Gestalt oder wenn sie Kunstwerke abbildet und den Markt bedient.
          Wer Daguerre sucht, findet ihn unter „Daguerreotypie“. Dort stößt man auch auf „Niepce“, dem der Accent abhanden gekommen ist. Verwiesen wird auf die Begriffe „Camera obscura“, „Fotografie“, „Stilleben“ (jenes „mit Gipsabgüssen“ von 1837, das „[a]ls erste D.“ gilt) und „Unikate“ (die als generell seitenverkehrt ausgewiesen werden, obwohl dies nur auf Exemplare der ersten Jahre zutrifft und die meisten Daguerreotypien mittels Spiegel eine seitenrichtige Ansicht wiedergegeben haben). Zuletzt ist noch vermerkt: „S.a. Diorama“. Unter Diorama heißt es: „zunächst das 1822 [...] präsentierte Verfahren [...]“, wobei dem „zunächst“ kein Vermerk folgt, was denn später daraus geworden ist. Ein Ausflug zum „Panorama“ führt doch wieder zu einem fotografischen Anteil, indem dieses als „Landschaft, Vedute oder P.-Foto der um 360 Grad schwenkbaren Kamera“ definiert wird, was nicht ganz stimmt, denn auch Aufnahmen über beispielsweise 180 Grad zählen zu den Panoramafotografien. Enthalten sind noch ein kurioser Superlativ und ein falscher Vorname: „Als Erfinder dieses ‘Dinosauriers der visuellen Massenkommunikation' gilt Rubert [sic] Barker.“
          Unter „Stilleben“ gibt es keinen Verweis, dass dieses Genre auch zu den fotografischen zählt, sondern der Leser muss über die „Daguerreotypie“ und Fotografie“ gehen, um sich von deren Existenz zu überzeugen. Nicht zuletzt erfährt man weder unter „Architektur“ und „Architekturbild“ noch unter „Daguerreotypie“ und „Fotografie“, dass es fotografische Wiedergaben und Inszenierungen von Gebäuden seit Aufkommen des Mediums gegeben hat. Und obgleich es für David Hockney zu seinen wesentlichen Ausdrucksmitteln gezählt hat, wurde dem Polaroid in diesem Lexikon kein Platz eingeräumt.
          Alfred Stieglitz taucht unter „Piktoralismus“ auf, der „Mitte der 1920er Jahre“ von „neue[n] Stilrichtungen“ abgelöst worden sei. Damit werden wieder einmal Entwicklungen in der allzu verbreiteten kunsthistorischen Manier wie Stafettenläufe beschrieben, bei denen ein Stil dem anderen folgt. Dabei gehen parallele Tendenzen und nationale Eigenheiten regelmäßig unter, wie im gegebenen Fall, der die pikoralistische Ausrichtung der meisten Amateurklubs neben dem Neuen Sehen und bis in die 1940er Jahre nicht zur Kenntnis nimmt. Die Kommentare zum „Piktoralismus“ enthalten im Zusammenhang mit der Bearbeitung durch die Kunstfotografen das Stichwort „Abzug“, der an der entsprechenden Stelle folgende Definition erfährt: „[...] in der Druckgraphik der (seitenverkehrte) Abdruck, in der Fotografie die Umwandlung des Negativs in ein Positiv.“ Nun bedeutet Abzug keinen Vorgang, sondern ein Ergebnis, und insofern ist die Erklärung nicht ganz korrekt – die sprachliche Unschärfe kann als Indiz gelten für die Ungenauigkeiten in den Definitionen, die zumeist mit unzulässigen Verkürzungen, Pauschalisierungen und verschwommenen Abgrenzungen operieren.
          Fragt jemand nach dem „Fotogramm“, so werden darunter weder Jahreszahlen noch Vorformen erwähnt, also nicht die Naturselbstdrucke des 19. Jahrhunderts und auch nicht die Experimente von Christian Schad, der lediglich unter „Neue Sachlichkeit“ aufscheint, allerdings als Maler, der aus der Dada-Bewegung kommt. Eher zufällig mag der Blick auf die davor stehende Eintragung „Fotografik“ fallen, die auf die Gebrauchsgrafik sowie das „Fotogramm“ und die „Fotomontage“ verweist. Die Eintragung schließt mit: „Eine Abteilung für F. [= Fotografik; T.S.] richtete László Moholy-Nagy 1923 am ‘Bauhaus' ein; heute ist F. ein akadem. Studiengang.“ Zu den namhaften Vertretern der „Fotomontage“ werden ebendort John Heartfield ge- und Klaus Staeck ernannt.
          So gelangt man in diesem Sachlexikon der Kunst zu guter Letzt doch noch in die Gegenwart und zu der Gewissheit, dass die Fotografik ein Lehrfach sei und als einziger Künstler unserer Tage, die mit Fotografie arbeiten, Staeck zu gelten habe. Zwar konnte ich noch Valie Export aufspüren, die unter „Gender Studies“ aufkreuzt und dort auf einem Foto abgebildet ist, das sie bei der Präsentation des „Tapp- und Tastkinos“ von 1968 zeigt. Dahin gelangt bin ich jedoch nicht über den Feminismus, der nicht verzeichnet ist, sondern über das „Verzeichnis der mit Bildern vertretenen Künstler“, das als einziger Index eine Suche nach Personen erlaubt. Dies ist mehr als dürftig, jedoch bezeichnend für eine Veröffentlichung, die einmal mehr die gängige Geringschätzung der Fotografie innerhalb der Kunstgeschichte(n) belegt. Und insofern kann sie auch nicht als ernst zu nehmendes Nachschlagewerk zur Kunst angesehen werden.

Mai 2007

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© Timm Starl 2007

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